Alfred Lang |
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Conference Presententation 1998 |
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Psychologie -- Wissenschaft des 21. Jahrhunderts? |
1998.00 |
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Vortragstext der Abschiedsvorlesung vom 23. Juni 1998 |
© 1998 by Alfred Lang |
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Vergiss dein Ich; Dich selbst verliere nie. [ ] Du selbst bist, was aus Allem du dir schufst Und bildetest und wardst und jetzo bist, Dir bist, dein Schöpfer selbst und dein Geschöpf. [ ] Was in dem Herzen andrer von Uns lebt, Ist unser wahrestes und tiefstes Selbst. [ ] (J.G. Herder, "Selbst", 1797, SWS 29:139, DKV 3:830)
Magnifizenz -- lieber Christoph Schäublin, Spektabilität -- lieber Rainer Schwinges, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende, hochgeschätzte Interessierte und liebe Freunde!
Als junger Assistent vor bald vierzig Jahren pflegte ich den Studierenden, die es hören wollten, anzuvertrauen, sie hätten ihre Studienrichtung gut gewählt: die Psychologie werde die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts werden. In einer Mischung von Stolz und unterdrücktem oder vielmehr in einen Appell umgesetzten Zweifel, sie möchten doch das Ihre dazutun, damit so etwas Wirklichkeit werden könne. Mit zunehmender Kenntnis meines Faches habe ich realistischerweise die kühne und vielleicht arrogant wirkende, freilich nicht so gemeinte Äusserung unterlassen. Doch hat mich wohl all die Jahre hindurch mehr als insgeheim dieser Gedanke beschäftigt, vielleicht besessen. So möchte ich ihn bei der heutigen Gelegenheit neu ausführen.
Mein Vorgehen ist einfach strukturiert: ich stelle drei Fragen und will ihnen partielle Antworten geben, in die Skizze eines Kontexts einbetten.
(FOLIE: Vortragstitel, Kapitel, Motto)
Meine drei Fragen im Anschluss an die Titelfrage lauten:
1. Soll sie? [Über die menschlichen Kondition]
2. Kann sie? [Von isolierenden Wissenschaften]
3. Wie denn? [Über Person und Kultur]
[4. Zur Aufgabe der Universität]
"Psychologie"
Natürlich stehen und fallen alle Erwägungen mit dem Verständnis dessen, wovon die Rede ist. Sie werden mir zugestehen müssen, dass ich meinen "Gegenstand" nicht definiere, sondern fortwährend neu bestimme, wie sich eben kulturelle Erscheinungen in ihrer Geschichte wandeln können -- eine Todsünde in der Wissenschaft, sagt man mir; man müsse wissen, abgrenzen, wovon die Rede sei. Die Psychologie gleicht im 20. Jh. nicht nur einem Chamäleon, das alle 10 Jahre seine Farben wechselt und dann nach Jahrzehnten selbstvergessen alte Moden wiederholt, sondern auch einer Chimäre, die in mancherlei Gestalten erfunden worden ist, aber noch keine allseits akzeptable gefunden hat. Wie die antike Chimäre ist sie freilich aus dem angeblichen Schrecknis zu einer Attraktion für Innenlebentouristen geworden -- in meiner Studentenzeit musste ich auf Gesellschaften noch die verbreitete Befürchtung zu zerstreuen suchen, meist erfolglos, dieser Psychologe könne einen durchschauen.
Wollte ich aber "Psychologie" in einer der üblichen Weisen vorausdefinieren, so stünde ich im Dilemma, von welchem der vielen Häupter der Chimäre ich denn sprechen oder welches von ihnen ich füttern, welchem die Ohren putzen oder welches ich -- vergeblich! -- abhauen soll.
Doch könnte ich es mir auch einfach machen und als verpflichtet loyaler Interessenvertreter behaupten:
1. natürlich soll sie;
2. und warum sollte sie nicht können?
3. wie anders denn, als wie sie sich selber versteht?
Postmodern-pluralistisch legitimiert könnten wir dann gleich zum zweiten Teil der Veranstaltung übergehen.
Sie werden berechtigt eine gründlichere Antwort erwarten. Ich muss also meinen Fragen entlang allerlei Fundamente ausgraben und Erscheinungsformen von Psychologie nachzeichnen und sie zu einem Ganzen zu fügen versuchen. Dass das fragmentarischen Charakter haben muss, versteht sich ebenso von selbst, wie dass etwas übergreifend Zusammengehöriges zugrundeliegen muss. Doch hoffe ich, in Ihre Köpfe wenigstens eine "Skizze" eines "Grundrisses" zu zeichnen, anhand derer sich im Verein mit ihrer eigenen Lebenskenntnis ein Wissenschaftspanorama ausmalen lässt.
"Wissenschaft des 21. Jahrhunderts"
Ich muss auch noch einen Hinweis zum zweiten Titelbegriff machen: "Wissenschaft des 21. Jahrhunderts": damit meine ich nicht "Leitwissenschaft". Dass man sich die Geometrie oder die Physik für die Durchführung von Wissenschaften mit ganz anderen Inhalten zum methodischen oder gar substantiellen Vorbild nahm, hat ja gerade zu Unglücksfällen wie dem der modernen Psychologie geführt.
Meine Erläuterung damals ist oberflächlich historisch gewesen. Ich wies auf die Kette von Wissenschaftsfeldern hin, die nach der aufklärenden Umdeutung des Himmels eine Progression des Interesses vom Fundament zum Oberbau aufzuweisen schien: von Physik und Chemie und den darauf gründenden Techniken zur Beherrschung der Natur im 19. zu Biologie und Medizin und der Beherrschung des Lebens im 20. Jh.
Fast zwingend war dann der Gedanke, die Kette sei fortzusetzen mit Psychologie und Soziologie und damit einer Zuwendung zu den Menschen als reflektierenden und handelnden Individuen und als handlungsamplifizierenden Gruppen. Denn es seien Menschen, welche alle jene anderen Wissenschaften und Techniken herstellten und einsetzten und damit die Welt veränderten und neue Bedingungen für das Leben der Menschen und darüber hinaus schüfen.
1. Soll sie? -- Über die menschliche Kondition
Damit bin ich bei meiner ersten Frage: soll sie? Soll die Reflexion der menschlichen Kondition auch in der Form von Wissenschaften vom Menschen gezielt in den Mittelpunkt der Bemühungen um ein besseres Leben und Zusammenleben gestellt werden? Ich möchte diese Frage im wesentlichen in einer fragenden Weise zu "beantworten" versuchen. Denn wir können nicht mit einer Notwendigkeit der Geschichte rechnen. Die "kontingente Systematik" des evolutiven Geschehens ist auch nicht vereinbar mit einer zwingenden Wissenschaftsentwicklung.
Wissenschaftskulturen
Denn auch Wissenschaften, wie alle kulturellen Gebilde, werden von Menschen und für Menschen gemacht und gewandelt. Um Wissenschaften zu verstehen müssen wir in jeder Phase ihres Werdens und Vergehens untersuchen, was mögliche, was wahrscheinliche, was problematische und was Entwicklungen mit welchen Folgen und Nebenfolgen sein können. Und welchen Part Menschen als Hersteller und als Betroffene von Wissenschaft und deren Folgen dabei einnehmen Unter welchen Bedingungen bestimmte Menschen eine bestimmte Wissenschaft und Kultur überhaupt machen, die zu einer der Hauptbedingungen des weiteren Geschehens auf der Oberfläche des Planeten Erde geworden ist.
Möglichkeitssinn
Denn wer einen Wirklichkeitssinn hat, schrieb Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften, muss auch einen Möglichkeitssinn haben. Menschen sind offensichtlich Lebewesen mit einem Möglichkeitssinn: sie können sich künftige Verläufe des Geschehens vorstellen, sich aufgrund ihres Verständnisses vergangenen Geschehens ein Stück weit ausdenken. Das versetzt sie in die Lage von Verantwortlichen, insofern sie in aller Regel sich mehrere möglichen Varianten des Geschens ausdenken und einige davon als Optionen verstehen können: zu fördern oder zu meiden. Durch Handeln oder Unterlassen haben sie einen Einfluss auf den Gang der Dinge. Insofern sie darüber wissen oder vermuten konnten, sind sie Verantwortliche.
Wer nur seinen Möglichkeitssinn entwickelt, ist ein Phantast; wer nur Wirklichkeitssinn einsetzt, ein freiwilliger Untertan; erst wer beides vereint, ist ein Mensch; eben deshalb, weil er Verantwortung für den Gang der Dinge übernehmen kann.
Verantwortungssinn
Menschen, die nur an ihren Wirklichkeitssinn glauben, positivistische Wissenschaftler zum Beispiel, können der Verantwortung auch nicht entgehen. Denn auch ihr Handeln beruht auf Entscheidungen aus Alternativen, nämlich gerade diese eine aus allen Gegebenheiten für ihr Wirkliches genommen und erforscht und praktiziert zu haben.
Wer wenn nicht Wissenschaftler sollten höchstmögliche Grade des Wirklichkeitssinns mit höchstmöglichen Graden des Möglichkeitssinns verbinden? Ohne Entwürfe, die sie der Prüfung unterziehen, können sie überhaupt nicht forschen. Ohne Möglichkeitssinn wären sie Sklaven ihrer Vorgänger. Wie Ameisen müssen sie den Weg laufen, den andere vorgezeichnet haben. Despoten haben immer versucht, den Menschen den Möglichkeitssinn zu verbieten und sie so in ihre partikuläre Wirklichkeitssicht zu zwingen.
"Instinktmodell" Wissenschaft
Es ist bemerkenswert, dass die Wissenschaften der Neuzeit bis heute ihre Konzeptionen dem Modell des Instinkts und der Gewohnheit nachbilden und damit eigentlich den Möglichkeitssinn und die Verantwortung zu verleugnen suchen. Ein Instinkt ist ein angeborenes Verfahren, jene "Sicht" der Dinge, mit denen die Vorfahren überlebt haben, auf gleichartig erscheinende Situationen zu übertragen und früher bewährte Strategien immer wieder einzusetzen. Das ist ein wunderbar elegantes Verfahren. Abgesehen natürlich vom Aussterben jener Arten, deren Instinktausstattung für eine gewandelte Welt nicht ausreicht. Die Strategie, aus der Vergangenheit in die Zukunft zu extrapolieren, gelingt also nur unter der Voraussetzung einer konstanten Welt. Zeitlose Naturgesetze sind genau Behauptungen, die Welt bleibe, jedenfalls unter dem eingefangenen Aspekt, immer genau die gleiche.
Ich verlasse mich auch gerne in Aspekten sehr langfristigen Charakters auf solche Strategien. Aber in der Welt des Lebens ändert sich manches, anscheinend von selbst, in Wirklichkeit als Folge anderer Änderungen. Leben gruppiert Stoffliches und Energie in völlig unwahrscheinliche Strukturen und Prozesse, unwahrscheinlich unter Gesichtpunkten der Eigenschaften von Stoff und Energie selbst. Die Welt der Menschen ist seit Jahrhunderten in überaus raschem Wandel, und dies wesentlich durch menschlichens Handeln und dem, was sich daraus ergibt. Menschliches Handeln, individuelles und besonders kollektives, verändert mit dem Wandel der menschlichen Umgebung zusätzlich auch die Menschen selbst. Müsste sie jedenfalls ändern; denn wie sollten sie mit ihrer alten Ausstattung in der gewandelten Welt bestehen können?
Änderungsmodell Technik
Mit ihren Techniken haben die Menschen auf eine ganz andere als die Instinktstrategie gesetzt, nach denen die wesentlich ahistorischen Naturwissenschaften immer noch überwiegend verfahren. Evolution -- ob von Leben, von Personen oder von Kulturen -- ist in erster Linie Erfindung von Neuem; Innovation bedeutet Herausforderung; draufhin müssen die Betroffenen neue Strategien gewinnen.
Ist es tragisch oder lächerlich, dass die heutigen Sozialwissenschaften weitgehend jenes Gesetzlichkeits-Denkmuster von den klassischen Naturwissenschaften übernommen haben und mithin so agieren, wie wenn wir fertige Wesen mit Instinkten und nicht erfinderische Menschen wären? Aber auch diese Wissenschaften haben sich immer mehr einen technischen Habitus zugelegt und sich damit in die paradoxe Lage manövriert, ihre Erkenntnis auf Konstanz, ihre Praxis aber auf Wandel anzulegen? Ihrer Praxis fehlt also wohl die vielgepriesene "wissenschaftliche" Begründung.
Anthropologische Wissenschaften
So gestellt muss die Frage: sollen anthropologische Wissenschaften ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden, ein unvermeidliches Ja zur Antwort bekommen. Die Frage ist sogar zu einer recht bangen Frage geworden. Denn vordringlich muss die Umwelt, wie das Wort "Umweltschutz" richtig sagt, vor den Menschen geschützt werden; nicht nur die Menschen vor der Umwelt, wie nahe an die hundert Prozent der unter diesem Titel finanzierten Projekte und Normen glauben machen könnten. Und dazu müssen wir die Menschen ebensogut wie, eigentlich besser verstehen als die Natur. Denn Menschen setzen die aus den Wissenschaften von Stoff, Energie und Leben abgeleiteten Techniken und Praktiken ein und haben jede Menge von hochproblematischen Sachzwängen für Menschen und mehr hervorgebracht.
Die Umwelt vor den Mensschen zu schützen und die Menschen vor schädlichen Einwirkungen aus der Umwelt zu schützen, sind offensichtlich nicht Gegensätze, sondern bedingen einander wechselweise. Eine Priorität zu setzen ist widersinnig, nur kurzfristig und scheinbar durchzuführen. Trefflich kennzeichnet der Ausdruck conditio humana Menschen nicht nur als Bedingte, sondern auch als Bedingungen.
Anthropologische Praxis
Unterstützt durch eine fast schrankenlose Organisierwut der modernen Menschen erzeugt jene Sicherheit-aufgrund-von-Gesetzlichkeits-Orientierung, wenn sie auf eine evolutive Welt angewendet wird, in weiten Bereichen eine Illusion von Sicherheit. Indizien der natürlicherweise und auch in der Kultur prekären menschlichen Lage werden verdrängt, obwohl Unerwartetes, natürliches oder -- heute wesentlich häufiger -- menschgemachtes, immer wieder einbricht und das Leben nicht nur bedroht sondern eigentlich auch lebenswert macht.
Schlüsselwissenschaften
Auf dem geschilderten Hintergrund meine ich heute mit Wissenschaften des 21. Jh. mehr und anderes als die im historischen Schema folgenden oder bloss die wichtigsten Wissenschaften. Vielmehr müssen qualitativ anspruchsvollste Wissenschaften von der menschlichen Kondition als "Schlüsselwissenschaften" verstanden und gefördert werden. Bevorzugt ein ganzes Bündel davon, so dass verschiedene Perspektiven verfolgt werden können.
Die klügsten Entwürfe des Verständnisses von und des Umgangs mit diesen Wirkungszusammenhängen müssen zur Geltung kommen können. Sie sollen erprobt und untereinander abgewogen und verbunden und mit den nachhaltigen, den gültigen und den problematischen Errungenschaften der traditionellen Wissenschaften ins Verhältnis gebracht werden. Man verstehe mich recht: ich fordere nicht Instanzen, welche solche Bewertungen vornehmen und über den Gang der Wissenschaften entscheiden. Ich fordere nur ganz bescheiden, dass jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler als Angehörige irgendeiner Disziplin vom Beginn ihrer Initiation an wenigsten einen kleinen Teil ihres Lernens, Forschens und Lehrens in einem humanistisch reflektierenden Dialog gemeinsam mit Wissenschaftlern aus anthropologischen Disziplinen vollbringt. Denn Gültiges zur Gesamtlage kann nur aus einer zentrierten Auseinandersetzung zwischen den Wissenschaften erstehen.
Humanitätsidee
Der Gedanke einer strategisch zentralen oder Schlüsselwissenschaft "Psychologie" oder Anthropologie in einem empirischen Sinn ist bei Johann Gottfried Herder und anderen Weltweisen des 18. Jh. dem Sinne nach ein erstaunlich verbreitetes Wissenschaftsverständnis gewesen. Die zwei Jahrhunderte seither ist man jedoch mit den Idealen absoluter "Vernunft" in Verbindung mit Machbarkeitsglauben dem Wahn eines hierarchisierten Wissenschaftsideals erlegen. Und man hat die "Verbesserung" der Natur -- einschliesslich der Menschen selbst -- ausschliesslich zu menschlichen Zwecken verfolgt; mit hochproblematischen Folgen für die Natur und für die Menschen selbst. Das Verständnis der Rolle der Menschen in den Wissenschaften wie in der Verbesserung der Welt und im Gewinnen von Orientierungsprinzipien zum Umgang damit gehört aber in den Mittelpunkt der Wissenschaften, wenn Menschen mit diesem ihrem Potential in einer evolutiven und kulturellen Welt leben. Die Wissenschaften von der menschlichen Kondition müssen also eigentlich den Kern des Wissenschaftssystems überhaupt bilden, um den herum sich alle Beschäftigungen mit Teilaspekten -- und das ist nahezu alles andere, was wir kennen können! -- organisieren sollten. Eigentlich müsste sogar jede Wissenschaft als Teil der Wissenschaften von der menschlichen Konditon verstanden werden.
Entsprechend hat Herder vor mehr als 200 Jahren gezeigt, dass Philosophie und Wissenschaft allgemein eine Frage der Humanität sein muss: damit meint er wesentlich die fortwährende Bewertung von deren Sichten, Erkenntnissen und der daraus ableitbaren Errungenschaften aus ihren mutmasslichen Folgen für die Menschen und für das Ganze der Welt, von der die Menschen ja ein Teil sind. Die Philosophen und die Wissenschaftler sind diesem Vorschlag, Tatsachen und Werte in Verbindung zu begreifen, nicht gefolgt; sie haben das Phantom "Wahrheit schlechthin" erst neuerdings und erst halbwegs entlarvt und erst zu ahnen begonnen, dass zu ihrem Tun Verantwortung gehört.
Herders Humanitätsgedanke ist übrigens das Gegenteil von Anthropozentrismus. Er deklariert nicht die Menschheit oder gar den einzelnen Menschen oder Gruppen von ihnen zum Mittelpunkt und Mass aller Dinge; er weist vielmehr ihre bedeutende Rolle im Ganzen, ihre Aufgabe und ihre Verantwortung auf. Stolz aufs Menschsein ist nicht aus Zugehörigkeit zu einer biologischen Spezies gerechtfertigt, sondern nur daraus, dass diese "Aufgabe" der Menschen erfüllt wird, nämlich dass die Welt einigermassen "human" gemacht wird.
2. Kann sie? -- Von isolierenden Wissenschaften
Das führt zu meiner zweiten Frage in dem spezifischen Sinn, ob jene Wissenschaft oder Gruppe von Teilwissenschaften vom menschlichen Funktionieren, "Psychologie", "Wissenschaft vom Erleben und Verhalten" oder ähnlich genannt, zu einer Schlüsselwissenschaft des 21. Jh. werden kann. Aus dem Insgesamt von allem, was sich selbst als "Psychologie" bezeichnet, greife ich nun jenen Komplex heraus, der sich an den akademischen Institutionen weltweit institutionalisiert hat und der bei inhaltlich starker Kompartimentalisierung in über 50 Subdisziplinen sich selbst überwiegend durch einen gemeinsamen Methodenkanon und auch durch ein teilweise gemeinsames Begriffsrepertoir definiert.
Institutionelle Lage
Diese Disziplin hat sich in den letzten fünf Jahrzehnten an den Universitäten der Welt in quantitativer Hinsicht einen der ersten Plätze in der Rangliste der Zuwachsraten und bereits auch der Anzahl der Studienanfänger erobert. Sie figuriert in manchen Ländern unter den Fächern mit den höchsten Abschlusszahlen. Sie produziert von den umfangreichsten Listen von Forschungs-Publikationen. Und sie begegnet einer erstaunlichen Nachfrage nach Dienstleitungen in einem weiten Feld professionalisierter Praxis der Lebensführungsverbesserung und Problemtherapie mittels überwiegend sprachlicher Kommunikation. Die Quantität der personellen und infrastrukturellen Resourcen an den Universitäten konnte da in den meisten Ländern überhaupt nicht mithalten; es wurde aber überall beträchtlich investiert.
Dennoch ist in meinem Urteil das quantitative Missverhältnis aus der Sicht der Studierenden im Vergleich zu vielen anderen Fächern und, mehr noch, im Verhältnis dazu, was dem Wertvollsten, was wir haben, nämlich unseren Mitmenschen gebührt, ein Skandal. Ich verstehe nicht, wie eine Institution vom Wert der Universität es sich leisten zu können glaubt, ihre Glieder so unterschiedlich auszustatten. Das Recht, studieren zu dürfen, kann doch nur ein Recht sein, hochstehend studieren zu können. Auf Dauer ist über diesen eigentlichen Sinn der akademischen Freiheit hinaus auch die Qualität und der Ruf der ganzen Institution gefährdet. Denn der Wert einer Institution misst sich letztlich an ihren schwächsten Gliedern.
Zu dem Bild gehört manches mehr, von innen her und von aussen her zu sehen und nicht selten sehr unterschiedlich gesehen, ob sachlich oder interessenbestimmt. Aber das ist hier nicht mein Thema. So wenig wie der Umstand, dass die finanziellen Rahmenbedingungen die Herstellung eines verantwortbaren Zustands derzeit nicht zu erlauben scheinen. Damit will ich nicht nur auf die staatlichen Finanzsorgen anspielen, sondern ebensosehr auf die Angst und Ansprüche der gewohnterweise anerkannten institutionellen Glieder. Eine derzeit deutliche Mehrheit der Angehörigen der Universität scheint es ja vorzuziehen -- nicht intendiert, aber in Kauf genommen als Konsequenz eines Loyalitätsprimats im engeren Kreis --, einer "toten" Institution anzugehören, deren Struktur nicht mehr grundlegend zu ändern, nur immer mehr zu vergrössern und zu zergliedern ist. Ich plädiere hier bewusst nicht für quantitativen Ausbau von irgendetwas Bestehendem, sondern für volle und innovative Konzentration auf die Qualität. Und zwar in dem doppelten Sinn von Qualität: was wird da eigentlich gemacht und wie gut wird es gemacht. Wie man solchen Einsichten mit institutionellen Reformen gerecht werden kann, muss und darf ich jetzt andern überlassen. Meine Mitverantwortung besteht nur noch in der Verpflichtung, laut und deutlich zu sagen, was zu äussern Jüngere in Bedrängnis bringen kann.
Konzeptuelle Bedingungen
Worüber aber auch öffentlich gesprochen werden kann und muss, sind also vor allem die konzeptuellen Bedingungen, die jetzt in diesem Feld bestehen, und die Wirkungen, die es dadurch über die Disziplin selbst hinaus ausübt, ob mit Absicht oder als Nebenwirkungen. Meine zweite Frage, schärfer gestellt, lautet mithin: in welchem Verhältnis steht die akademische Psychologie zu jenen Bedingungen, die für eine Schlüsselrolle im beschriebenen Sinn mutmasslich bedeutsam sind? Ich greife aus Dutzenden oder Hunderten von möglichen exemplarisch ganz wenige Ist-Soll-vergleichende Erwägungen heraus.
Wissenschaft und Werte
Die Psychologie als Wissenschaft hat aus der philosophischen und wissenschaftlichen Tradition die Attitüde übernommen -- wie hätte sie anders sich als Wissenschaft etablieren können? -- die Erkenntniswelt nicht nur von der Handlungswirkungswelt, sondern auch von der Wertwelt abzutrennen und sich ausschliesslich damit zu befassen, wie dieses und jenes psychische Subsystem "funktioniert". Eine Folge davon ist, dass die Psychologen ihren tausenden von Fragestellungen je separat nachgehen und kaum einen Gedanken mehr daran verlieren, wie das alles zusammenpasst und was die mutmasslichen Folgen der jeweiligen Betrachtungsweisen sind.
Wert- und Interessengesichtspunkte kommen damit aus unreflektierter Tradition oder aus momentaner Interessenlage mächtig folgenreich ins Spiel. Beispielsweise ist die westliche Psychologie blind der Aufklärungsideologie von der Absolutsetzung des Indidivduellen vor dem Gemeinschaftlichen verfallen. Die Aufklärungsphilosophen hatten ja in ihrer isolierenden Orientierung auf das "Höhere" übersehen, wie genuin sozial gerade auch homo sapiens sapiens schon aufgrund seiner biotischen Ausstattung ist. Dass marxistisch angelegte Psychologie und Soziologie den Primat umgekehrt setzte, hätte schon einige Zeit zu denken geben können: vielleicht sei beides in solcher Einseitigkeit gleicherweise unangemessen und irreführend. Das Schicksal jedes vernachlässigten oder verhätschelten Kindes zeigt das ebenso eindrücklich wie die "Mitnahme" von Massen von Individuen bis zur Selbstzerstörung.
Aggression und Versöhnung
Beispielsweisse Aggression und Aggressivität untersuchen die Psychologen in einer isolierenden Wertorientierung überwiegend als Motiv und Disposition des Individuums; dies obwohl eine Schädigung von jemandem durch jemanden offensichtlich eine Beziehungssache ist. Die Ausmerzung der Aggression im Kollektiv sei im allgemeinen Interesse und sie werde durch ihre Erklärung und Reduktion beim Individuum erreicht, etwa durch ihre Umleitung in harmlose Spielformen, ihre systematische Umsetzung in konstruktives Agieren im wirtschaftlichen Wettbewerb oder einfach durch Verlernen oder durch Psychotherapie, in bälde am sichersten durch Psychopharmaka. Dabei übersehen sie völlig die ganz wesentliche Rolle von Auseinandersetzung im Verein mit Aussöhnung unter Individuen zur Gewinnung und Festigung des sozialen Gefüges von Gemeinschaften, blenden die genuin sozialen Strategien der Aggressionseinbettung weitgehend aus. Sie untersuchen Aggression und Versöhnung getrennt, weil sie das eine nur negativ, das andere nur positiv zu bewerten belieben und alle Anzeichen ihres innigen Zusammenhangs -- seit 20 Jahren bei den anderen Primaten bestens belegt -- systematisch aus ihrem methodischen Beobachtungshorizont verbannen.
Kognition vs. Emotion oder bewegte Beweger
Ebenso blind sind die Psychologen der hellenistisch-calvinistisch vorbereiteten Aufklärungsideologie vom Primat der Rationalität, vom Vorrang des Kognitiven vor dem Emotionalen verfallen. Auch diese beiden Aspekte jedes psychischen Vorgangs untersuchen sie je separat. Einige Forscher versuchen sogar, Emotionen auf Kognition zurückzuführen. Nur in Maschinen sind Vorgänge ohne Betroffenheit möglich, ohne Einbettung in eine Wertwelt. Nach dem Maschinenmodell lokalisiert man den Denkprozess in den Köpfen und untersucht ihn heute bevorzugt als Computersimulation. Menschen sind aber Wesen, welche aus ihrer jeweilig aktuellen persönlichen und sozio-kulturellen Umwelt heraus bewegt werden und nach eigener Neuorganisation ihrer inneren Bewegung ihrerseits ihre eigenen und weitere Lebensumstände bewegen. Charles Peirce hat dies in die sprachkritische Einsicht gefasst: wie wir nicht sagen: Bewegung ist in einem Körper, sondern ein Körper ist in Bewegung, sollten wir sagen, wir seien in Gedanken, und nicht, Gedanken seien in uns (1868, CP 5.289n).
Werte sind also weder eine Angelegenheit von Individuen noch von Kollektiven allein. Versteht man sie als kollektiv gegeben, so werden Individuen entmenschlicht; überantwortet man sie den Einzelnen, ist der Kampf der Interessen und das Chaos angelegt. Es ist höchste Zeit, dass Wissenschaften von der menschlichen Kondition Tatsachen und Werte im Zusammenhang konzipieren und bezüglich des Individuellen und des Gemeinschaftlichen deren wechselweise Konstitution verfolgen statt aus beidem Gegensätze zu machen. Von tauglicher Wissenschaft vom Menschen möchte ich erwarten, dass das traditionelle Credo der Trennung von Wertwelt und Erkenntnis analysiert statt nachgebetet wird. Sie sollte sich nicht zur Komplizin partikulärer Interessen machen.
Kanonisierung
Fixierungen psychologischen Denkens wie die beschriebenen wären fast beliebig zu vermehren und zu exemplifizieren. Es scheint tatsächlich, dass manche Wissenschaftler, wenn sie einmal auf bestimmte Wege in bestimmte Welten gelangt sind, wie Massentouristen den Blick nicht mehr auf die weitere Landschaft richten, in der sie gehen. Wie kommt es, dass Wissenschaftler, die angeblich rationalsten Exemplare der menschlichen Gattung, dermassen ihr Tun durch ihre eigenen Gefühle bestimmt sein lassen, nämlich die Bevorzugung dessen, was ihre Anführer und was die Mehrheit ihrer Kollegen tun; dessen, was sie einmal gelernt haben, und dessen, woran sie sich gewöhnt haben? Wie kommt es, dass die Universitäten geradezu systematisch Absolventen "produzieren"(!), deren wichtigste Lernerfahrung die Imitation des Gängigen darstellt? Das zweitgrösste Problem der meisten modernen Wissenschaften neben den problematischen Nebenfolgen ihrer Erkenntnisse scheint ihre institutionelle Kanonisierung zu sein, mit der sie ihren Nachwuchs ins Glaubensbekenntnis zwingen, um im Wettbewerb gegen die Nachbarwissenschaften kurzfristige Erfolge zu erringen. Dass dies so oft auf Disziplinierung, d.i. geistige Vergewaltigung der jungen Generation hinausläuft, scheint vielen führenden Wissenschaftlern gleichgültig zu sein.
Personalisierung?
Nun habe ich hier in Form von wenigen kursorischen Blicken auf wirkliche und mögliche Psychologie zur Beantwortung unserer Kann-Frage beizutragen versucht. Das ist notwendig meine persönliche Sicht. Dass ich sie drastisch zeichne, hat mit dem Sachverhalt mehr zu tun als mit meiner Attitude. Die meisten werden mich als einen freundlichen Menschen kennen; aber viele werden seit geraumer Zeit gespürt, manche auch gehört und gelesen haben, dass ich kein Vertrauen in die real existierende Psychologie setzen kann. Auch diese heutigen Bemerkungen werden von vielen meiner Fachkollegen weit herum wahrscheinlich als Angriff anstatt als Aufforderung verstanden und mir übelgenommen werden. Bei weitem nicht von allen. Das Unbehagen ist innerhalb der Disziplin deutlich angestiegen und verbreitet sich weltweit. Das Betrüblichste im Rückblick auf meine universitäre Position ist aber seit vielen Jahren die Erfahrung der Diskussionsverweigerung in meinem Fach. Dass meine wissenschaftlichen Angebote so häufig als Angriffe auf Personen missverstanden, und nicht wie intendiert als Untersuchungvorschläge, als Herausforderung von Begriffen, Gedanken, Gewohnheiten, Selbstverständlichkeiten" aufgefasst worden sind. Dass man mich an den Formen, nicht in den Inhalten kritisiert hat. Was ich sage, entspringt keiner Verbitterung. Durch reges Interesse vom Rand und von ausserhalb des Faches bin ich je länger je reicher entschädigt. Ich habe bloss meine Neugier von dem, was in meinem Fach getan wird, zu dem verlagert, was dort und im Verbund mit anderen Feldern getan werden könnte.
Selbstzentrierung
Mein Fach hat in den vergangenen Jahrzehnten in den Universitäten weltweit ein Milieu gefunden, in dem auch manche andere Diszplinen überwiegend ihr Spiel mit sich selbst betreiben können.
Es ist offensichtlich zu einer Frage der Weite des Horizontes geworden, auf dessen Hintergrund man Wissenschaft macht. Ich verdiene Kritik an meiner Unloyalität mit meinem Fach, wenn man das Fach selbst und seine Klientel zum Kriterium seiner Bewertung zu machen gewillt ist. Ob das auch gilt, wenn man die Sorge um die menschliche Kondition zum Kriterium wählt, überlasse ich dem Urteil anderer. Könnte nicht wenigstens etwa die Hälfte der Ressourcen in der Psychologie anstatt in Bemühungen zur Reparatur von Schäden, welche unbedachtes Umgehen mit Menschen anrichtet, in die Gewinnung besserer Grundlagen für den Umgang der Menschen untereinander investiert werden?
3. Wie denn? -- Über Person und Kultur
Wenn Wissenschaften vom Menschen zu Schlüsselwissenschaften des 21. Jh. werden sollen, aber in der Anlage, wie sie derzeit vorliegen, meines Erachtens dazu wenig taugen, werden Sie mit Recht von mir eine Antwort auf die Frage verlangen: wie denn? Was sollen wir fördern, wenn wir zur Überzeugung gekommen sind, der Schlüssel für die Zukunft der Lage der Menschen und von mehr auf diesem Planeten liege in einem realistischeren Selbstverständnis, in einem Menschenbild, welches der heiklen Lage dieser Gattung in einem umfassenderen evolutiven System und als Schlüsselfiguren für dessen weiteren Wandel und für ausreichende Stabilisierung gerecht werden könne?
[FOLIE: Semiotischer Funktionskreis im Oekosystem (entspricht dem Emblem im Titelkopf)]
Hier ist nicht der Ort, die neuen begrifflichen und methodischen Mittel systematisch darzustellen, welche ich Semiotische Ökologie nenne und die in den knapp zehn Jahren, seit ich -- spät genug -- den Schlüssel dazu gefunden habe, den Mittelpunkt meines Tuns bilden. Es handelt sich um konzeptuelle Werkzeuge und daran anschliessende Theorien und Methoden, welche der Geschichtlichkeit und der Kulturalität der menschlichen Kondition gerecht werden können. Der Grundgedanke liegt in einer generativ-semiotischen Auffassung der wechselweisen Konstitution von Lebewesen und ihrer Umwelt im ökologischen Funktionskreis, insbesondere von Personen und ihren Kulturen.
In einer kleinen Mitarbeiter- und Studentengruppe arbeiteten wir sie aus und erproben sie in ausgewählten Feldern, insbesondere im Forschungsfeld der Wohnpsychologie oder Wohnökologie: "Menschen mit ihren Dingen in ihren Räumen". Wie vorhin anhand ausgewählter kritischer Erwägungen möchte ich nun mit einigen Streiflichtern aufweisen, dass sehr wohl Wissenschaften möglich sind, welche die unübersehbaren Potentiale der menschlichen Kondition in ihrem Kerngehalt aufgreifen und erfahrungskontrolliert auf Begriffe bringen können.
Von solchen Konzeptionen sollte man jedoch keine Umsetzung in technische Verfahren erwarten. Aber sie können sehr wohl helfen, Verständnis, Leitlinien und Kriterien auch für eine Praxis für den Umgang Menschen zu erarbeiten: für eine Praxis, nach welcher Menschen -- alle Menschen und nicht bevorzugt Experten -- sich und einander, als Individuen und als Gruppen, orientieren können. Freilich wird dabei, wenn denn die Menschen Bedingte und Bedingungen evolutiver Systeme sind, nicht nur unser Begriff von Wissenschaft eine bedeutende Ausweitung erfahren sondern auch unser Menschenbild einen recht radikalen Wandel durchmachen müssen. Aber genau das müssen wir ja wohl im Geiste von Wissenschaftlichkeit wollen; und in Sorge um und in Verantwortung für unsere Enkel und Enkelsenkel und für etwas, was als Bedingtes und Bedingung auch über deren Lebenswelt hinausreichen können soll.
Evolution allgemein
Ich habe im ersten Teil der Ausbreitung dieser Gedanken die menschliche Kondition als Teil eines umfassenden offen-evolutiven Systems charakterisiert. Es mag schon deutlich geworden sein, dass ich den Begriff der Evolution allgemeiner als üblich fasse und Bioevolution als eine Phase davon verstehe, welche auf den kosmischen, chemischen, mineralischen Evolutionen aufbaut und ihrerseits die individuellen und die kulturellen Evolutionen ermöglicht. Eine allgemein-evolutive und ökologische Grundhaltung ist noch nicht wirklich in unser Selbstverständnis eingeflossen. Zweihundertdreissig Jahre nach Herders und 140 Jahre nach Darwins Schlüsselbüchern sind wir immer noch tief gefangen in der dualistischen Timäuswelt, wie sie Plato vor fast zweieinhalb Jahrtausenden ersonnen hat. Diese hat nicht nur ins christliche Gottes- und Menschenbild, sondern auch in weite Teile der modernen Wissenschaften metamorphisiert. Herder hat wohl als erster eine im wesentlichen stimmige Allgemeine Theorie der Evolution entworfen, und zwar am Beispiel der Kulturevolution in ihrer Verflechtung mit den Entwicklungen der individuellen Personen und auf dem Hintergrund eines spekulativen Entwurfs von Bioevolution. Dass er Vorstellungen der frühen Phasen, insbesondere der bioevolutiven, in christliche Sprache chiffrieren musste, liegt an der Zeit. Was alles tabuisiert und chiffriert unsere Zeit nicht auch?
Wo und wie unterrichten wir unsere Jugend, generell evolutiv zu denken und fühlen? Allenfalls verleiten wir sie zur Nachfolge im vorgelebten Zerrbild eines amoklaufenden Sozialdarwinismus. Warum suchen die Wissenschaften auch der offensichtlich evolutiven Bereiche, von der Biologie bis zur Soziologie und allen ihren Satelliten, immer noch nach "zeitlosen" Gesetzlichkeiten und verteidigen ihr Paradigma gegen die Postmodernen, welche in Überreaktion auf das Notwendigkeitsdenken alles für durch und durch beliebig deklarieren? Wie ist es möglich, dass wir ausgehend von den harten Einsichten der Evolutionsbiologen nicht gründlicher und durchgehender über das Allgemeine in den verschiedensten Erscheinungsformen dieser schöpferischen Prozesse nachzudenken suchen?
John Dewey hat bereits 1920 die hocheinsichtige Konzeption der "Evolution der Evolution" geprägt. Dewey war die ersten 20 Jahre seiner akademischen Laufbahn ein Psychologieprofessor gewesen und hatte, weil seine Radikalkritik (1896) an der eben Moment gewinnenden mechanistisch angelegten Akademisierung einer psychologischen Disziplin nichts fruchtete, sein Leben der alten Trias von Philosophie in konzeptueller, Psychologie in erfahrungsbegründender und Pädagogik in praxiserprobender Perspektive gewidmet und mit einem vierten P noch die Politologie der Demokratie beigefügt. In seinem Werk ist in meinem Urteil das in der westlichen Welt im 20. Jh. umfassendste anthropologische Verständnis der menschlichen Kondition im nötigen Verbund von empirischen, theoretischen und praktischen Wissenschaften und Vorgehensweisen entwickelt.
Individualevolution
In der Tat hat die Bioevolution Lebewesen hervorgebracht, welche über die Bildung des Artengedächtnisses in den chromosomalen Strukturen des Genoms hinausgehend als Individuen Erfahrungen sammeln und nutzen können. Nach allem, was wir zu verstehen meinen, wird das Individualgedächtnis überwiegend in cerebralen Strukturen gebildet. Es ist im Vergleich mit dem Genom weit rascherem Wandel unterworfen. Es ist ebenso wie die Instinkte auf die Umwelt des jeweiligen Individuums bezogen. Es entwickelt aber weit grössere Flexibilitäten als die Instinkte, indem in den internen symbolischen Darstellungen, welche die umweltliche Wirklichkeit in den cerebralen Strukturen gewinnt, zusätzlich zu Gewohnheiten so etwas wie ein Zukunftssinn oder ein Proto-Möglichkeitssinn Erwartungen über nie zuvor erfahrene Situationen bilden kann. Mit dem Instinktkonzept und mit der individuellen Lern-Erfahrung sind wir schon mitten im Bereich der psychologischen Wissenschaften.
Die Bildung von Individualgedächtnis ist bei den komplexeren cerebralen Tieren weit verbreitet. Die damit verbundene Diversifizierung besonders des sozialen Geschehens schafft variablere Umwelten. Die damit geforderte weitere Anreicherung des Aktionsrepertoirs der Individuen kann sich für die Erfahrenen wie für andere einer Gruppe als interessant erweisen; im Vergleich mit den so zuverlässigen sozialen Instinkten freilich auch als problematisch für diejenigen, welche die Anpassung nicht leisten. "Unerfreulich" unter Gesichtspunkten der Ökonomie und der Konsistenz ist und bleibt, dass jedes Individualgedächtnis einzeln mühsam gebildet werden muss und mit dem Tod des Individuums unwiederbringlich verlorengeht.
Kulturevolution
Einige Arten, insbesondere die Hominiden, haben in einer weiteren Evolution der Evolution eine Möglichkeit gefunden, einige Beschränkungen der individuellen Erfahrungsnutzung und -weitergabe durch die Bildung von organismus-externen Gedächtnisstrukturen zu erweitern, beinahe zu sprengen. Im Gegensatz zur Nichtvererbbarkeit und Nichtverteilbarkeit von individuell Gelerntem sind solche Erfahrungsverkörperungen allen Mitgliedern einer Lebensgemeinschaft direkt oder nachhaltig zugänglich; freilich können sie nur in engster Verbindung mit den Individualgedächtnissen ihrer Erzeuger wie ihrer Nutzer überhaupt erst funktionell werden. Sie verleihen aber allen beteiligten Individuen eine weit über den Organismus und dessen raum-zeitliche Enge hinausreichenden Wirkungshorizont als Geber und als Empfänger. Ich spreche natürlich von der kulturellen Evolution. Beziehungsweise von den kulturellen Evolutionen; denn wie schon die Lebensentwicklung jedes Einzelnen sind die kulturellen Entwicklungen jeder Tradition von denjenigen anderer Traditionen verhältnismässig entfernt bis getrennt. Das hängt einfach von der Intensität des interaktiven Austausches unter den Beteiligten ab. Scharfe Grenzen zwischen kulturellen Traditionen lassen sich nicht ziehen. Denn sowohl individuelle wie kollektive Erfahrungsbildung und -nutzung wird mächtig durch Einflüsse aus anderen und in andere Lebensläufe und Traditionen bereichert.
Evolutionsverflechtungen
Offensichtlich bedingen die drei späteren Evolutionen einander wechselweise und nicht nur dergestalt, dass die früheren zu Grundlagen der späteren werden. Die Individualevolutionen wären ohne kulturelle Angebote und Zwänge ungemein armseliger; und in den Kulturen der Welt hat man zu unterschiedlichen Graden durch mehr oder weniger gezielte Selektion und Variationsbildung und noch stärker durch fast jeglichen Selektionsdruck abschwächende Umweltgestaltungen und Verhaltensnormen in den Lauf der Bioevolution eingegriffen. Derzeit sind (zunächst) die westlichen Menschen im Begriff zu lernen, die Bioevolution auch durch direkte Eingriffe ins Genom zum Objekt ihrer Machenschaften und damit in einer weiteren Evolution der Evolution zu einem Hybrid von kultureller und biotischer Evolution zu machen.
Wie schon gesagt, war es Johann Gottfried Herder, der diese Zusammenhänge als erster in den wesentlichen Zügen ihrer unfassbaren Tragweite verstanden und daraus Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis gezogen hat. Mehr als ein ganzes Jahrhundert nach ihm hat Jakob von Uexküll dem Herderschen Verständnis eine explizite biologische Fundierung geben können und empirisch gezeigt, was Herder intuitiv-beobachtend eingesehen hatte, nämlich dass alle Lebewesen auf ihre artspezifischer Weise in ihre je eigene Umwelt eingebunden sind. Bei Pflanzen und Tieren spielen Tropismen, Taxien, Instinkte diese doppelte Einbindung durch Merken und Wirken. Das gilt für Menschen nicht weniger, auch wenn ihre Einbettung durch Individualerfahrung und kulturelle Bereicherung die Fixiertheiten der biotischen Einbindungen überwunden und damit deren evolutive Tragweite ungemein erweitert hat. Dieser Sachverhalt stellt den Kern ökologischen Denkens dar, das sich vom evolutiven Geschehen in der Lebenswelt nicht eigentlich trennen lässt. Ich habe ihn in meinen ersten Studienjahren von Kurt Lewin gelernt. Seine nicht von irgendeinem prätentiösen Primat der Physik bestimmte sondern zum vornherein vergleichende Wissenschaftslehre und seine auf deren Einsichten gründende ökologische Psychologie sind mir zu den hauptsächlichen Richtlinien meiner eigenen Wissenschaftsentwicklung geworden, bis ich dreissig Jahre später endlich in die Lage gekommen bin, mit Unterstützung von Herder, Peirce und Dewey auch deren Fixierungen zu sprengen.
Wissenschaften vom Evolutiven
Wenn Sie diese Sicht der Zusammenhänge in der menschlichen Kondition auch nur generell und ahnend nachvollziehen, werden Sie meine schrittweise gewonnene Konsternation über die Selbstdeklaration der Psychologie als Naturwissenschaft oder als Sozialwissenschaft nach ersterer Vorbild vielleicht verstehen können.
Mir wird immer mehr zum Rätsel, wie es die Vorgänger und Kollegen in meinem Fach geschafft haben, ein Jahrhundert lang zu forschen und zu lehren und dafür Studierende und Unterstützung zu gewinnen, obwohl sie diesen dritten und genuin menschlichen Evolutionsbereich in ihren Begrifflichkeiten und in ihrer Methodologie einfach ausblendeten? Ja, sogar auf den Einfall kamen, ihn zu einer "Störvariablen" zu deklarieren, welche ihren Blick auf die "reine" Gesetzlichkeit des Verhaltens verstelle und eigentlich bloss zu letzterer statistischen Sicherung nützlich sei. Unabhängige Wissenschafts- und Kulturhistoriker werden angesichts seiner enormen Folgen diesen epochalen Irrweg klären wollen -- hoffentlich bald!
So lässt sich der Kern meiner Kritik an der akademischen Psychologie des 20. Jh. in die Formel fassen, sie verpasse den kulturellen, genauer, den kulturell-evolutiven Aspekt und damit die jeweilige Geschichtlichkeit und Geschichtsbezogenheit der menschlichen Kondition. Einzelne Schwalben oder kritische Pioniere kulturpsychologischen Denkens wären hier zu erwähnen; sie machen bekanntlich noch keinen Sommer.
Denn es geht darum, die Psychologie als ganze auf die Kulturalität und Historizität der menschlichen Existenz zu richten, selbstverständlich unter Einbezug der biotischen Basis. Das kann mit Denkweisen, Begriffen und Forschungsmethoden, welche für nicht-evolutive Systeme gebildet worden sind, nicht gelingen. Ein radikaler Bruch mit den herkömmlichen Vorgehensweisen ist daher unumgänglich. Das heisst nicht, dass nicht manche Ergebnisse bisheriger Psychologie in den neuen Kontext eingebracht und einen neuen Stellenwert gewinnen können. Das Gerücht stimmt nicht, dass ich mit dem Zweihänder rundum schlage; mit Posaunen freilich versuche ich manchmal schon zu wecken. Ist das nicht meine Pflicht?
Kulturbegriff?
Der Ausdruck Kultur ist seit Pufendorf (1686) als Indikator für spezifisch Menschliches verwendet worden; leider in Entgegensetzung zur Natur, der umgebenden wie der des Menschen selbst. Herder hat das leider nur für einen kleinen Kreis von Einsichtigen umdeuten können. So ist der Begriff "Kultur" zu einem mächtigen Motor der Entzweischneidung der menschlichen Kondition geworden. Das Sprechen über diesen Ausdruck erfordert daher äusserst gründliches Vorgehen. Zunächst: Kultur als "die Kultur" lässt sich nicht sinnvoll definieren. Denn dermassen substantialisiert wird das Kulturelle seines evolutiven Charakters beraubt.
Kulturalität und Kulturen
Wohl aber lassen sich einerseit Differenzierungen des Kulturellen in Zeit und Raum unterscheiden: und Verwandtschaften und Unterschiede in den Lebensformen und Lebensumwelten, welche Gruppen von Menschen in Traditionen herstellen, wandeln und brauchen; Ähnlichkeiten und Differenzierungen auch der Menschen selbst, welche selbstdeklariert oder von anderen als solchen Traditionen zugehörig bezeichnet werden und welche ihre Traditionen innovierend weiterführen.
Anderseits lässt sich auch ein allgemeines Verständnis des Kulturellen im Hinblick auf die Gesamtheit lebensweltlicher Strukturen und Prozesse gewinnen, welche menschengenerierte Gemeinsamkeiten in der Überformung ihrer Umwelt und ihrer selbst bestimmen. Kultur, oder besser: Kulturalität, ist also bloss eine Sammelbezeichnung für alle Prozesse und Strukturen, die in den Menschen und zwischen den Menschen im Rahmen von Traditionen gebildet werden und dann einen weiteren Einfluss in weiteren solchen Prozessen ausüben können. Halten sich divergierende Momente mit konvergierenden Momenten dieser Prozesse in einer Tradition mehr oder weniger in der Waage, so werden die Individuen zu Personen und die Umwelt zu ihrer Kultur. Extremlagen von überschiessender Divergenz auf Kosten der Konvergenz oder umgekehrt können sozusagen als Unkultur verstanden werden, welche Unpersonen hervorbringt. Kulturalität ist wie Biotizität ein allgemeiner Vorgang und muss als solcher in aller Klarheit auf Begriffe gebracht werden. Dieses Verständnis muss das menschliche Selbstverständnis in entscheidender Weise bestimmen. Kulturwissenschaften sollen diesen allgemeinen Vorgang in seinen Wirkungszusammenhängen begreifen und anhand konkreter Fälle auf allen Grössenordnungen von der Dyade bis zu den globalen Systemen und deren Verflechtungen aufweisen.
Person und Kultur
Im kulturellen Geschehen sind die Individuen und die Gemeinschaften gleichermassen wichtig; es ist kein Primat des einen vor dem andern möglich, wie man sofort einsieht, wenn man den Prozess der Genese von Kultur und Person in der Zeit auslegt. Denn ein Individuum wird erst zu einer Person dadurch dass es die von anderen angebotenen Errungenschaften seiner Kultur auf eigene Weise erwirbt. Es ist irreführend, den Personbegriff auf die biologische Zugehörigkeit zur Gattung Mensch zu reduzieren.
Anderseits sind die Gemeinschaften nicht bloss sozial, sondern eben auch deswegen wesentlich kulturell, weil es die Individuen sind, welche Innovationen in die Traditionen bringen, sei es durch eigene Erfindung oder durch Übernahme und Modifikation von Errungenschaften anderer Gemeinschaften. Und es sind, ebensowichtig, die Individuen, welche vorgeschlagene Innovationen aufnehmen oder liegenlassen, modifizieren und verbreiten und somit traditionelle Gewohnheiten wandeln oder aufgeben. Eine Formel, welche das prägnant fasst, spricht von der wechselseitigen Konstitution von Person und Kultur und beider regulativer Stabilisierung und Wandlung.
Verursachung und Zeitlichkeit in Ökosystemen
Die Einsicht in die Verflochtenheit der drei Evolutionen verlangt nach einer allgemeinen Begrifflichkeit, welche die drei Evolutionsbereiche überspannt und so erst ermöglicht, das Gemeinsame, die Unterschiede und die Wechselbeziehungen zwischen ihnen zu begreifen.
Gerne hätte ich deshalb an zwei wichtigen Aspekten des evolutiven Geschehens in Ökosystemen und ihren Funktionskreis-Spiralen mein semiotisches Denken konkreter gemacht, beispielsweise anhand der evolutiven Verursachungsvorstellung der generativen Semiotik oder anhand der Zeitlichkeit von evolutiven Systemen. Verursachungsvorstellungen, welche dem Bedeutungsproblem nicht gerecht werden, sind ebenso unzulänglich wie wortmagische Beschwörungen von Gründen. Die Zeitlichkeit von Ökosystemen wäre für unser Thema direkt interessant, weil daraus radikal andere als die herkömmlichen Vorgehensweisen und Zielsetzungen für Wissenschaften von evolutiven Systemen abzuleiten sind. Aus Zeitgründen kann ich das nur nennen und auf Ausführungen in einer längeren schriftlichen Vorausversion bzw. Weiterbearbeitung und in anderen Schriften verweisen.
Geschöpf und Schöpfer zugleich
Vielleicht das Eindrücklichste der Beschäftigung mit jederlei evolutiven Systemen ist die bei hoher Kontinuität fast unglaubliche Kreativität, mit welcher Gebilde und Ereignisse generiert werden, von denen sich nicht die kühnsten Träumer von Zukunft je irgendeinen Schimmer von Vorstellung über das Naheliegende hinaus hätten machen können. Das gilt gerade auch für die Kulturevolution, die in extrem kurzen Zeiträumen im Verhältnis vielleicht noch grössere Vielfalt hervorgebracht hat als die in dieser Hinsicht gewiss nicht "sparsame" Bioevolution.
Über die Individualevolutionen können wir uns in dieser Hinsicht heute wohl noch kein adäquates Bild machen. Wir können nur mit Herder und Dewey vermuten, dass kreative Produkte von Individuen für die Innovation der Tradition ausschlaggebend sind. Während in der schönen Literatur ebenfalls die Vielfalt der Lebensläufe und ihrer Verwicklungen imponiert, hat sich das Instrumentarium der einschlägigen Wissenschaften und Techniken stark darauf konzentriert, alle über den gleichen Leisten zu schlagen und die Kreativität des menschlichen Tuns als ein kleines Nebenthema mit dem kleinen Finger anzutippen. Methodisch scheinen die selektiv-positivistischen Forscher ein Kreativitätsmonopol bezüglich ihrer Modellsituationen zu beanspruchen und den Untersuchten -- in allgemeinpsychologischen Experimenten wie in individualdiagnostischen Untersuchungen -- jegliche Innovationsfähigkeit abzusprechen, ja, sie eigens zu unterbinden versuchen.
Insofern nach reinen Gesetzlichkeitsvorstellungen natürlich auch die Kreativität der positivistischen Forscher nur als zufällige Ausnahme von der Regel oder von notwendigen Gesetzmässigkeiten zu betrachten wäre, erscheint es so arrogant wie verwunderlich, die Ausnahme gehäuft gerade bei den Gesetzesgläubigen zu finden. Aber es steht dennoch im fundamentalen Widerspruch zu den Beobachtungen in den Kulturen der Welt, wo eine ungemein grosse Vielfalt bei starker Gewichtung von Stabilität und Verlässlichkeit zustandegekommen ist und weiterhin kommen wird. In dem spiraligen Kreislauf des Gemachtwerdens und des Wieder- und Weitermachens von Menschen und ihren Verhältnissen ist gewiss Stabilität ebenso unentbehrlich wie Innovation. Obwohl das Wort von der Schöpfung ebenfalls im Rahmen von Monopolansprüchen reklamiert worden ist, ist der Herdersche Gedanke vom Geschöpf als Schöpfer seiner selbst im Gefüge von Gemeinschaften ein tiefsinniger Vorschlag, die übliche Unterscheidung zwischen aktivem Schöpfer und passivem Geschöpf aufzugeben und das Zusammenfallen dieser beiden Rollen, genauer: ihr Alterieren im evolutiven Prozess mit Mitwelt und Umwelt geltend zu machen und den Wissenschaften von der menschen Kondition zur Richtlinie zu empfehlen.
4. Zur Aufgabe der Universität
Nun möchte ich in einem vierten Abschnitt noch ein paar Gedanken zur Universität allgemein anfügen. Denn das Gesagte steht in einem Spannungsverhältnis zu der Art und Weise, wie wir das wissenschaftliche Tun organisieren.
Neben den gefühlsbasierten religiösen, den diskursiven politischen und den intuitiven künstlerischen gehört der reflektierenden oder begrifflichen Strategie, mit der menschlichen Lage zurechtzukommen, zweifellos ein bedeutender Platz. Historisch lässt sich der Wandel dieser jüngsten der vier Strategien an der Bildung und Geschichte der vier Fakultäten nachvollziehen: die alte Universität leistete die drei wichtigsten Berufsvorbereitungen für eine begrifflich operierenden Praxis: für das ewige Leben der Seele (Theologie), für das Leben selbst (Medizin) und für das Zusammenleben (Jurisprudenz). Diese "höheren" Fakultäten sollten ein Fundament in allgemeinen metaphysischen, methodologischen und substantiellen Erwägungen und Erkenntnissen bekommen (Philosophie).
Die allmähliche Differenzierung der Fakultäten in Disziplinen und Subdisziplinen lässt sich verstehen. Weniger freilich die Verselbständigung und Isolierung von Fakultäten und Disziplinen gegeneinander; und noch weniger die zunehmende Vernachlässigung des Interesses der Wissenschaften am ganzen Menschen. Die beiden humanistischen Reformen der Universität um 1500 und um 1800 waren Einflüssen von aussen zu verdanken, aber versandeten in ihrem Hauptanliegen in der Universität eigentlich beidemal recht bald oder wurden und haben sich selbst ghettoartig eingehagt. Was schlicht jeder Rationalität entbehrt -- wir sind immer noch im Reich des klaren, eindeutigen, umsichtigen Vorgehens! --, ist die Behandlung, welche das Menschliche in dieser Unternehmung zur wissenschaftlichen Bewältigung unseres Daseins und in dieser bdeutenden Reproduktionsanstalt erfährt.
Zerstückelung des Menschen
Alle behandeln je ein Stückchen dieser Menschen und ihres Umfeldes: Die Mediziner und Biologen den Leib, die Neurologen, Philosophen, Psychologen, Pädagogen den Inhalt des Kopfs, die Geisteswissenschaftler seine Produkte, die Juristen den Zusammenstoss und das Auseinanderhalten der Köpfe, die Ökonomen die Substitution der Köpfe und ihrer Produkte durch das Geld, die Soziologen ihre Klassifikation, die Physiker und Chemiker die Unterlage und die Stoffe und Kräfte die auf den Leib, die Köpfe und deren Produkte wirken können; und zusammen mit weiteren Disziplinen begründen sie jene unendlichen Verstärkungen der Augen und Ohren, der Hände und Füsse, welche die Welt bis hin zur Rückseite des Mondes verändern, aber doch im ganzen recht kopflos erscheinen. Wo in der Universität widmet man sich der menschliche Lage insgesamt? Manchmal komme ich mir in der Universität vor wie im Anatomiesaal; dort zerstückelt man auch Leichen und studiert ihre Teile.
Aus Gründen, die merkwürdigerweise bisher nicht ausreichend reflektiert oder gar erforscht worden sind, ist die Rolle der Menschen in der Erzeugung und im Gebrauch der kulturellen Produkte zwar unbestritten; aber diese Rolle ist in keiner Weise wissenschaftlich geklärt. Menschen sind in jeder Hinsicht das Eigentliche von allem Kulturellen. Sie müssten eine strategische Schlüssel-Position in den Kulturwissenschaften einnehmen, als Schöpfer und Geschöpfe. Von Philosophie als Anthropologie, von Psychologie, von Ethnologie, von Erziehungswissenschaften, auch von Soziologie, Ökonomie, Politikwissenschaft sollte daher eine entsprechende Ausrichtung eingefordert werden.
Zentrierung
Diese Forderung gilt gleichermassen konzeptuell wie empirisch. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt überzeugend, dass Verständnisbemühungen in dieser Hinsicht, welche diese Aufgabe entweder nur gedanklich oder nur empiristisch angehen, überwiegend grosses Unheil angerichtet haben und anrichten. Deshalb muss grösste Sorgfalt auf eine gültige Verbindung konzeptueller und erfahrungsorientierter Forschung und Lehre gerichtet werden.
Die Universität ist zu einem Rad geworden, das hektisch dreht, und keiner weiss woran. Denn bei einem Rad ist die Nabe, obwohl leer, das Herzstück seines Wirkungspotentials. In der Darstellung, in der Theorie des Rades gehört sie ins Zentrum. Fehlt sie, so ist das Rad nicht verstanden. Wenn Universität beansprucht, die Verantwortung für die Zusammenschau, die Theorie oder das Ensemble der Theorien des Gesamten der menschlichen Lage zu tragen -- was soll sie denn anderes? -- so muss ich feststellen, dass man die Nabe oder den Sinn des Ganzen einfach übersehen, vergessen, ausgeblendet hat, auf Nachfrage auch praktisch unter der Hektik der Beschäftigung mit Einzelheiten verleugnet. Aber diese Nabe des Geschehens auf diesem Planeten, genannt "Mensch" ist überaus greifbar und durchaus in dieser Rolle erforschbar.
Einer der trefflichen Gedanken von Friedrich Dürrenmatt möge dies zusammenfassen. Bill, ein Biologe, zur Soziologie hinübergewechselt, ein Wissenschaftler, nicht ein Moralist: "Dem Menschen hilft das Studium der Natur erst wieder weiter, wenn er gelernt hat, mit seinesgleichen zusammenzuleben." (Die Mitmacher. (1973) Zürich, Arche, 1980:45)
Es ist mir ein Anliegen, diese Vorlesung mit dem Ausdruck meiner tiefen Dankbarkeit zu schliessen. So viele Menschen haben mir in meinem universitären Amt und darum herum so viel an Anregungen, Ideen, Spiegelungen, Kontrasten, Verstärkungen, Warnungen, Unterstützungen, Einschränkungen und viel anderes mehr gegegeben, dass ich nur hoffen kann, nicht nur diesen selbst auch etwas zurück-, sondern besonders auch vielen anderen etwas weitergegeben zu haben und weiterhin geben zu können. Von all den vielen will ich hier nur meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eigens erwähnen; wahrscheinlich werden Sie in der nächsten halben Stunde verstehen weshalb.
Ich habe immer versucht, Universität als wechselseitigen Austausch, als Gelegenheit für den Dialog zwischen den besten begrifflich Orientierten einer älteren und einer jüngeren Generation zu verstehen, auch wenn uns die fortschreitende Verfestigung der Studien- und Prüfungsverhältnisse dabei zunehmend behindert hat. Sollte ich jemandem etwas Zustehendes genommen oder vorenthalten haben, so bitte ich dafür um Verzeihung.
Dass ich zum Thema dieser Abschiedsvorlesung entsprechend der neuen dritten Zwecksetzung im neuen Universitätsgesetz (Art. 2 Abs. 3) eine "Reflexion der Voraussetzungen und Wirkungen wissenschaftlicher Tätigkeit", der Voraussetzungen und Wirkungen meiner wissenschaftlichen Tätigkeit gewählt habe, hat seinen Grund auch in dem besonderen Privileg, dass ich als ein Hiesiger eine Laufbahn habe gehen können, welche mich nur minimal zur kompetitiven Anpassung an Glaubensbekenntnisse zeitgemässer Wissenschaftspraxis genötigt hat. Vielleicht sollten wir Älteren wirklich nicht von allen begabten, klugen und einsatzfreudigen jungen Menschen zuerst eine Anpassungsleistung verlangen sondern viel eher eine Haltung des Zweifelns an unseren Fixierungen und Besessenheiten. Wie kostbar Sie ein solches Privileg einschätzen und ihm im Sinne des im zitierten Zweckartikel Gesetz gewordenen Auftrags einen Platz im Gesamten der Universität einräumen wollen, muss ich den weiterhin dafür Verantwortlichen unter Ihnen überlassen.
Ich darf Sie jetzt alle herzlich zum zweiten Teil des Anlasses hoch oben im Kuppelsaal der Universität einladen. Offenbar wollen meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihnen und mir dort noch eine Überraschung bereiten.
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