Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Column 1992

Meine Integrationsgefühle

1992.16

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Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr.160 vom 11.7.92, S.13

© 1998 by Alfred Lang

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Keine Zeit zu Ferien-Träumen. Die eidgenössischen Räte wollen in grösster Eile 60 Gesetze revidieren und zwei oder drei Mal werden wir abstimmen können. Ja oder Nein soll entscheiden über radikale Weichenstellungen. Ins Blaue, gewissermassen, führt die eine Richtung, ins Grüne, sag ich mal, naturnäher vielleicht, aber ebenso ungewiss, die andere.

Der Behauptungen zu Vor- und Nachteilen sind viele. Eigentlich ist, ausser dass in beiden Fällen die Zinsen steigen und die Regelungsdichte zunimmt, sozusagen überhaupt nichts gewiss. Neutrale Information bedarf der Buchlänge. Auch mit allem Wissen ist die Entscheidung nicht aus Vernunft zu fällen. So will ich Ihnen einige meiner Gefühle mit dieser Integration schildern. Ich ergreife Partei. Vielleicht hilft es Ihnen beim Reifenlassen ihrer eigenen Entscheidung. Persönlich habe ich nach aller Voraussicht weder viel zu gewinnen noch viel zu verlieren. Anders ist es, so scheint mir, für die späteren Generationen. Was sind denn deren Interessen? Sind sie von der gleichen Art oder vielleicht ganz andere als die der Lebenden, die jetzt die Richtung wählen? Es sind unsere Nachfahren, die im "Blauen" oder im "Grünen" leben müssen. Sollten wir nicht aus dem uns suggerierten Schema: was nützt uns mehr, der Beitritt oder das Abseits?, hinaustreten und eine längerfristige Perspektive einzunehmen versuchen?

Die Frage nach dem Ja oder Nein zu EWR oder EG ist dann eigentlich völlig falsch gestellt. Nicht von der EG zu bestimmten Verträgen gezwungen sollten wir uns neu orientieren, sondern weil Entwicklungen in einem Milieu dessen Bewohner allemal betreffen. Man kann sie nur mit einer gekonnten Kombination von Anpassung und Widerstand überstehen, wie das ja die Eidgenossen über hunderte von Jahren mehr oder weniger geschickt getan haben. Das heisst, es kann nur das Ziel geben, die Entwicklung über das Zeitalter der Nationalstaaten hinaus sinnvoll mit zu beeinflussen. Zum Aufgeben der Idee Schweiz gibt es, nüchtern betrachtet, überhaupt keinen Anlass. Viele Europäer wollen ja etwas Ähnliches: Systeme von Zweckverbänden, nach allen Grössenordnungen der Aufgaben, anstelle der Nationen des 19. Jahrhunderts. Genau das ist der Existenzgrund der Schweiz. Vielleicht kommen mit Hilfe von Aussendruck unsere längst fälligen inneren Reformationen in Gang. Möge dies nicht dazu führen, dass wir uns durch Übernahmen anstatt durch koordinierten Eigenbau erneuern.

Verhandlungen mit den europäischen Partnern sind also in jeder Hinsicht angezeigt. Für die anderen Europäer sind wir eine starke Kraft. Aber unwürdig und unerträglich ist der Zeitdruck und Alles-oder-nichts-Entscheidungszwang. Es bestehen keine Sachgründe dafür, bloss Politiker-Ehrgeiz. Wie in unserem Land hat sich offenbar auch in den europäischen Institutionen eine politische Klasse von dem Volk, dem sie dienen sollte, abgelöst. Viele Politiker haben den Bezug zur menschlichen Wirklichkeit durch das Echo einer medialen Scheinrealität ersetzt und bilden sich ein, es wäre ihre Aufgabe, "das System zu managen". Ist es nicht die konstituierende Idee unseres Landes gewesen, alle Arten von "Fürsten" so klein und unter Kontrolle zu halten, dass keiner überhand nehmen kann? Und zu verhindern, dass sie sie sich zusammentun und ihre Bahn besteigen und uns mitreissen. Dass sie uns dienen, und nicht wir ihnen!

Das möchte ich im Prinzip auf Europa übertragen. Und ich denke, das wünschten sich viele Europäer weitherum. Und müssen so oft die Fäuste im Sack machen, weil sie sich immer wieder ausgetrickst vorkommen. Hingerissen zum Beispiel von materiellen Wohlstands- und Sicherheitsversprechungen ihrer modernen "Fürsten", um dann zu spät zu entdecken, was für einen Preis diese Dinger hinterher verlangen, wenn sie überhaupt funktionieren.

Denn mit den europäischen Institutionen ist ja eigentlich eine riesige Maschinerie in Gang gesetzt worden, eine sozio-technische Grossanlage gewissermassen. Der Vergleich mit Kernkraftwerken drängt sich auf. In beiden Fällen steht am Anfang ein ehrenwertes Motiv, die Energiebeschaffung dort, die Friedenssicherung hier. Aber bald zeigt sich, dass diese Maschinen das menschliche Mass überschreiten und uns Risiken aussetzen, die wir uns nicht ausmalen können. Überrissene Planung wurde noch immer durch sich selber widerlegt. Doch gibt es auch Unterschiede: während wir die Vorgänge in einem Grosskraftwerk in vergleichsweise weitgehendem Ausmass verstehen und nur extrem unwahrscheinliche Zustände unserer Kontrolle zu entgleiten drohen, ist dieses Experiment mit uns selbst eine Ausgeburt von sozusagen vollständiger Ignoranz über uns selbst.

Ich verweigere meine Zustimmung zum freizügigen Austausch von Gütern, solange Transfer und Transport ihre wirklichen und gesamten "Kosten" nicht decken und solange diejenigen, die sich einem Angebot und seinen Nebenkosten verweigern wollen, nicht die gleichen Rechte geltend machen können wie diejenigen, die es annehmen wollen.

So denke ich, wir sollten den Euro-Planern dort in den Arm fallen, wo wir jetzt Einfluss nehmen können. Die von unserem Land offerierte Verkehrssteigerungs-Anlage, die uns als ökologischer Gewinn angedreht wird (Verlagerung von Mehrverkehr von der Strasse auf die Schiene), sollten wir ihnen wieder aus der Hand nehmen mit dem Argument, dass Europa und der Rest der Welt sich so viel Transport gar nicht leisten kann. Ist Verkehr denn ein Schicksal wie eine Lawine? Das wäre die stärkste Position, die wir unseren Delegierten zu den EG-Verhandlungen im Hinblick auf eine menschengerechtere Entwicklung europäischer Gemeinschaften in die Aktentasche legen können. Ähnlich wie ein paar tausend Dänen über Nacht das Subsidiaritätsprinzip in der EG zu neuem Leben erweckt haben.

Wer macht eigentlich in Torschlusspanik? Ahnen einige Antreiber, dass die Menschen Europas, wenn sie Zeit genug bekommen die Verrücktheit des Projektes zu verstehen und den Widerstand zu organisieren, bei solchen Mammutexperimenten nicht mitmachen und heute anders als zu Zeiten früherer Grossreich-Episoden dazu eigentlich nicht mehr gezwungen und vielleicht auch nicht mehr verführt werden können?

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