Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Column 1990

Europa 1991 ff.

1990.14

@ResPub @CuPsy

6.5 / 11 KB Last revised 99.05.31

Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr. 304 vom 29.12.90, S.11

© 1998 by Alfred Lang

info@langpapers.org

Scientific and educational use permitted

Home ||

 

Am Vorabend dieses siebenhundertsten Gedenkjahres der Eidgenossenschaft muss ich an Europa denken.

Zugegeben, auch mir wäre bei einem patriotischen Jubiläum nicht recht wohl. Wir feiern 1991 aber weder den Bundes- oder Nationalstaat von 1848 noch das Ende der alten Zeiten von 1798. Auch der Wohlstands-, Gier- und Jammer-Staat von heute steht nicht zum Bejubeln an. Sondern wir gedenken der alten Eidgenossen.

Denn es ist hochaktuell, was diese Kleinadligen und Bergbauern im ausgehenden Mittelalter gemacht haben. Von Schiller, den Hymnen und den Schulen aller Art wurde es uns als verschwörerischer Freiheitsbund dargestellt. Es war aber wohl einfach dies: diese Vorfahren haben das Verhältnis ihrer (unserer!) Lebensgemeinschaften zum umgebenden Europa für lange Zeit in gültiger Weise definiert.

Europa: das war damals zum Beispiel das hl. Römische Reich Deutscher Nation, verkörpert durch die Ansprüche der habsburgischen Kaiser. Jenen imperialistischen Ansprüchen, herzöglichen und kaiserlichen, gerissenen und überrissenen, sind gewisse Projekte von Brüsseler und anderen Techno- und Bürokraten nicht ganz unähnlich.

Damals allerdings kam die Macht mit Pomp und Waffenklirren daher; heute schleicht sie auf leisen Sohlen, nicht selten durch Volkswahl legitimiert und von Gesetzen abgesichert, bis in den hintersten Winkel hinein und erzeugt oft mächtigen Zwang und ohnmächtige Wut. Während traditionelle Macht -- schlimm genug -- hie und da ein Land mit Krieg verwüstete, durchdringt moderne Macht mit Geld und Gütern, mit Reklame und Verkehr, mit Reglementen und Rechtsmitteln den Alltag von uns allen in jeder Minute und überall. Statt der Waffen klirren heute nicht einmal mehr die Kassen, nur in den Computernetzen sirren die Daten und Konten weltweit hin und her.

Damals wie heute war übrigens der Alpenübergang ein Streitpunkt. Aber natürlich ging und geht es um mehr: nämlich darum, den Herrschaftsansprüchen der Grossen das Recht auf Selbstbestimmung der Kleinen entgegenzusetzen. Autonomie kann nie total sein. Bei Personen wie bei Völkern ist sie das Resultat gegenseitiger Achtung und Anerkennung, auch in ungleichen Partnerschaften. Man muss sie allerdings beanspruchen und verdienen!

Um unseren wiederholt bewiesenen Sinn für ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Eigenheit und Einbettung in ein europäisches Umfeld hat man uns Schweizer doch über Jahrhunderte bewundert und benieden. Bald einmal werden die Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts Episode gewesen sein. Wir haben ja im 19. Jh. auch nur auf Bedrohungen mit unseren Ansprüchen reagiert. Nicht ungeschickt übrigens. Den CH-Staat mussten wir machen, weil ringsum die Nationalstaaten hochgetrimmt wurden und Ansprüche auf "ihr" Ecklein von unserem Alpenraum stellten.

Aber eigentlich waren wir nie eine Nation und können nie eine sein. Unserem wirtschafts- und finanzpolitischen Übermut der letzten Jahrzehnte wartet schon noch sein Marignano. Peinlich der weit verbreitete Opportunismus, dem der Bundesrat Ende November seine Stimme lieh: wenn die EWR-Verhandlungen nicht ein uns günstiges Ergebnis bringen, gehen wir halt in die EG, mit allen staatspolitischen Folgen. Bin ich ein Schweizer, wenn ich die Gierigkeit der Mehrheit teile, oder bin ich einer, wenn ich sie kritisiere? Werden wir doch wieder ähnlicher dem bescheidenen aber selbstsicheren Zweckverband, welcher die alte Eidgenossenschaft die meiste Zeit gewesen ist!

Das neue Europa am Ende der Nationalstaatenepoche soll nun in erster Linie wirtschaftlich definiert werden. Und zwar mittels Wirtschaftswachstum. Welch eine Verrücktheit in einer Zeit, da man die Fragilität des Raumschiffs Erde endlich zu begreifen beginnt!

Und welch perfide Lüge, das Wachstum in der Form von vier "Freiheiten" anzupreisen, die allenfalls Freizügigkeiten, tatsächlich aber Zügellosigkeiten sind!

Im Gedenkjahr sollten wir -- inspiriert durch die Eidgenossen von 1291 -- den vier Zügellosigkeiten des modernen Wirtschaftsimperialismus, dem freizügigen Verkehr von Gütern, Personen, Dienstleistungen und Kapital, vier humane Ansprüche entgegensetzen. Und alles in unserer Kraft Stehende tun, um ihnen europaweit Geltung zu verschaffen.

1) Wenn Waren aller Art zur Übersteigerung ihres (Un-)Wertes kreuz und quer durch Europa verschoben werden sollen, so müssen wir gegen den Energieverschleiss, die Immissionen, den Blutzoll und den Lärm einen angemessenen Anspruch auf Verhältnismässigkeit, auf saubere Luft, auf sichere Wege und auf Stille geltend machen.

2) Wenn jedes Individuum das Recht bekommen soll, jederzeit an jedem Ort in Europa seine Selbstentfaltung betreiben zu können, dann müssen wir die Gegenrechte derjenigen geltend machen, die dort schon sind und ihre eigene Identität bewahren und sie auf ihre eigene Weise verwirklichen möchten.

3) Wenn "Dienstleistungen" von überall her nach überall hin ausgeworfen werden können sollen wie "lebensverschönernde" Streuprospekte, dann müssen wir den Willen zum Selbermachen entwickeln und gegen die "dienstleistenden" Fachleute aller Art durchsetzen, die unser Leben an unserer statt für uns leben wollen. Macht es denn wirklich mehr Spass, ein Haus zu besitzen anstatt eines zu bauen oder zu pflegen, honorierte Anwälte für sich schreiben zu lassen anstatt persönlich miteinander zu reden?

4) Wenn wir zustimmen, dass Geld in Europa nur noch von einer Sorte sein und beliebig transferiert werden können soll, so haben wir noch nicht begriffen, dass Geld und Güter nach der Ächtung von Dogma, Folter und Krieg zum Herrschaftsmittel Nummer eins geworden sind. Warum nicht Selbstbestimmung auch mit dem Anspruch auf eigenes Geld betonen. Wer sind wir geworden, dass wir unsere Seele so willig für Allerweltsgeld zu verkaufen bereit sind?

Es gibt in Europa etliche Regionen, wo die Menschen der ihnen über Jahrhunderte aufgezwungenen nationalstaatlichen Fremdbestimmung vielleicht endlich entgehen können. Für sie wie für uns im Alpenland könnte anstelle der obsolet gewordenen Neutralität die Neutralisierung des modernen Imperialismus ein Anliegen sein. Ist Wirtschaftszügellosigkeit denn ein Wert, wenn sie die Lebensqualität zerstört? Mit geschickt verbündeten Kräften müsste ein Europa autonomer Regionen zu schaffen sein. Wie die alten Eidgenossen sich mit den Freibriefen ihrer Kaiser gegen ihre Kaiser behaupteten.

 

Ein ausführlichere Darstellung des europäischen Lage bietet Europa-Anliegen; weitere Kolumnen in der Bund-Bibliographie

Top of Page