Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Edited Book Chapter 1991

Was ich von Kurt Lewin gelernt habe

1990.01

@SciHist @SciTheo @EcoPersp

46 / 57 KB  Last revised 98.11.14

In: K. Grawe; R. Hänni; N. Semmer & F. Tschan (Eds.) Über die richtige Art, Psychologie zu betreiben. (Festschrift für Klaus Foppa und Mario von Crranach.) Göttingen, Hogrefe, 1991. Pp. 121-135.

© 1998 by Alfred Lang

info@langpapers.org

Scientific and educational use permitted

Home ||

Inhalt
1. Wissenschaften sind wie Individuen: je einmalige (Sinn-)Gebilde in Entwicklung.

2. Soseinsaussagen setzen geklärte Daseinsannahmen voraus.

3. Daseinsannahmen lassen sich als Genesereihen explizieren: die genetisch-ökologische Grundeinsicht.

4. Reduktionismus ist unmöglich, da Physik, Biologie und Psychologie unterschiedliche Genesereihen annehmen.

5. Jedes Individuum mit seiner Umwelt ist als Genesereihe bio-psychologisch ein eigenes "Universum".

6. Psychische und "soziale Phänomene besitzen den gleichen Realitätsgrad wie physische Gegenstände" -- gebraucht wird eine Wissenschaft, die beiden zugleich gerecht wird.

7. Entwickle psychologische Daseinsannahmen derart, dass alles, was auf Individuen wirkt, und alles, was Individuen bewirken, untereinander in Existentialbeziehung steht.

Schlussbemerkung


Hatte E.C. Tolman unrecht, als er in seinem Nachruf (1948) Kurt Lewin als den neben Freud wichtigsten Psychologen des 20. Jahrhunderts bewertete? Kenner seines Werkes sind sich zwar einig über Lewins enorme Wirkung in vielen Bereichen des Faches, sei es mit allgemein gewordenen Begrifflichkeiten, sei es auf dem Weg über die Werke von Schülern und Mitarbeitern (vgl. Graumann 1981 in KLW I, 7)1 . Die an Umfang schwindenden und an Stereotypie zunehmenden Passagen, die seinem Werk in den Lehrbüchern des Faches in den letzten Jahrzehnten eingeräumt worden sind, könnten zu einer Bejahung der Eingangsfrage verleiten. In das psychologische Denken sind jedoch, wie ich meine, eine ganze Reihe seiner grundlegenden Erkenntnisse nicht eingegangen. Lewin ist zu unserem Nachteil, wie A. Métraux treffend gesagt hat, "trivialisiert" worden (1983 in KLW II,12). Lewin muss aber als der erste Systemtheoretiker in der Psychologie gelten.

Hier möchte ich einige Aspekte einer Art und Weise, "Psychologie zu betreiben" darstellen, zu der mich Kurt Lewin geführt hat. Es geht mir also nicht um eine Darstellung eines irgendwie "richtigen" Lewin. Da nach Lewin "wirklich ist, was wirkt", darf ich beanspruchen, einen "wirklichen" Lewin zu skizzieren, und damit meine Hoffnung verbinden, dass er weiterwirke.

Mein Verfahren ist einfach: ich formuliere oder zitiere einige (sieben) programmatische Sätze und kommentiere sie im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Psychologie. Sie sollen ein Feld für Einsichten aufspannen. Verweise auf Textstellen bei Lewin und eigene Arbeiten mögen interessierten Lesern weiterhelfen. Entsprechend der Zielsetzung dieses Bandes dominiert die wissenschaftstheoretischeEbene; an anderer Stelle werde ich den Brückenschlag zur theoretischen Psychologie und zur psychologischen Praxis aufnehmen.

Auch meine Legitimation ist einfach. Beim Übersetzen der "Feldtheorie" (Lewin 1963) habe ich lesen gelernt. Ich verdanke das Privileg von nun über 30 Jahren Denken mit Lewin meinem Lehrer Richard Meili, der seinerseits in den frühen 20er Jahren bei Lewin studiert und bei seinen Filmaufnahmen assistiert hat. Meili hat nie sehr Konkretes davon erzählt, was bei ihren ähnlichen Interessen (zB Entwicklungsprobleme, Arbeitspsychologie, Sozialismus) für mich schwer verständlich geblieben ist. Der Lewin der Berliner Dissertationen, der "Systeme in Spannung", war ganz und gar in Meilis Denken aufgenommen; mit den wissenschaftstheoretischen Hintergründen und mit den topologisch-vektorpsychologischen Entwicklungen konnte er sich jedoch nicht anfreunden.

Inhaltsübersicht

1. Wissenschaften sind wie Individuen: je einmalige (Sinn-)Gebilde in Entwicklung.

Der für mein Verständnis (vgl. Lang 1964, 1979) entscheidende Text von Lewin ist seine abgewiesene Habilitationsschrift: Der Begriff der Genese (1922 oder KLW II, 47-318; vgl. Métraux 1983 in KLW II, 18ff.). Hier hat Lewin erfahrungs- und wissenschaftsbezogen die Kantische Erkenntnistheorie elaboriert und demonstriert, wie perzeptuelle und konzeptuelle Tätigkeiten des Erkennenden bereits die Gegenstandskonstitution eines Realbereichs bestimmen. Vom Wissenschaftssubjekt löste er das historisch-reale ab, nämlich das forschende Individuum bzw. die forschende Gemeinschaft, deren Tun dann auch psychologisch untersucht werden kann (vgl. 1914 oder KLW I, 111-123).

Es wunderte ihn, dass wir bereit sind, Gebilde, die wir gleichzeitig nebeneinander antreffen, in der Regel ohne weiteres als zwei separat existierende Gebilde aufzufassen. Was wir jedoch nacheinander antreffen, verstehen wir oft ebenso selbstverständlich als ein- und dasselbe auch dann, wenn zwischen den beiden Zeitpunkten ein Massenwechsel oder Gestaltwandel eingetreten ist und ohne dass wir uns seiner Kontinuität hinreichend versichern. So erscheinen uns ein Organismus oder eine Person über die Zeit trotz Stoff- und Informationsaustausch mit sich selbst identisch, von ihrer Umwelt aber trotz Stoff- und Informationswechsel getrennt. Was bedeutet unsere Neigung zu räumlicher Separierung und zeitlicher Vereinheitlichung für die wissenschaftliche Erkenntnis?

Offensichtlich sind solche Auffassungen der Einheiten der Welt weniger durch Eigenschaften dieser Gebilde selbst als vielmehr durch die Eigenart unserer Wahrnehmung bedingt. Feststellungen über das Existieren von Gebilden oder Geschehnissen in der Welt (ihr Dasein) sind unserer Beschäftigung mit den Eigenschaften oder Funktionsweisen (dem Sosein der Gebilde) eigenartig implizit. Daseins-Feststellungen werden selten, und wenn, dann völlig separat von den Soseins-Explikationen der Wissenschaften und nur sehr allgemein bedacht (zB materialistische, idealistische u.a. Ontologien). Die Wissenschaften bedürfen präziserer Explikationen der Existenz ihrer Gegenstände.

Lewin schlug vor, solche Explikationen nicht auf der Basis vorwissenschaftlicher Wahrnehmung oder Mutmassung zu vollziehen, sondern als dem wissenschaftlichen Vorgehen implizite Annahmen zu erschliessen. Die Einsichten Lewins über die unterschiedlichen Existenzannahmen in verschiedenen Wissenschaften (vgl. unten Abs. 2) und damit in den individuellen Charakter der Wissenschften sind mE von allergrösster Tragweite für die Emanzipation der menschbezogenen Wissenschaften aus dem Bannkreis eines materialistisch-physikalistischen Weltbildes.

Lewin hat wie schon Ernst Mach wesentliche Teile der wissenschaftstheoretischen Diskussion des 20. Jahrhunderts vorweggenommen (vgl. Haller & Stadler 1988). Beispielsweise hat er die Poppersche Falsifikationslogik formuliert und befolgt (KLW II, 370). Den skeptischen Relativismus eines Kuhn oder Feyerabend (zB 1989) hat er klar formuliert und überdies auch kritisiert (KLW I, 53ff.; KLW II, 323-342).

Wissenschaften sind in seinem Verständnis prinzipiell beliebige Hervorbringungen menschlicher Kulturgeschichte und jedenfalls nur zum kleinen Teil innerwissenschaftlich folgerichtig oder zwingend. Der Forscher müsse die "methodischen Verbotstafeln niederreissen", die gerade jene "Methoden und Begriffe als unwissenschaftlich und unlogisch verurteilten, die sich später als grundlegend für den nächsten Fortschritt erweisen" (KLW I, 351).

Dennoch entbehren Wissenschaften so wenig einer gesetzmässigen Eigennatur wie menschliche Individuen. Beide sind sowohl durch ihnen inhärente Faktoren wie durch Bedingungen, die von aussen her auf sie einwirken, in ihrem Werden beeinflusst und insoweit einer systematischen Bestimmung zugänglich (vgl. 1925 oder KLW I, 54ff.).

Individuen wie Wissenschaften sind überdies zugleich gegliederte wie prinzipiell einheitliche Gebilde. Alles was als Teilgebilde an ihnen unterschieden werden kann, ist dadurch charakterisiert, dass es mit wenigstens einigen anderen Teilgebilden derselben Einheit in einer Existentialbeziehung steht; dh es wäre ohne diese anderen Glieder nicht zu einem Glied des Ganzen geworden. Nicht dass alle Teilgebilde mit allen andern direkt existentiell verbunden wären, doch ist kein Teilgebilde so isoliert, dass es für sich allein Bedeutung hätte.

Während Feyerabend entsprechend seiner Grundthese von der faktischen Beliebigkeit von Wissenschaft nicht müde wird, beliebige Beispiele aus beliebigen Wissenschaften zu einem demgemäss methodisch vorprogrammierten Panorama von Beliebigkeit zusammenzustellen (1989 und früher), hat Lewin sich die Mühe genommen, in zwei Wissenschaftsbereichen mit grösster Gründlichkeit nach den existentiellen Bedingungen zu forschen, die allen eigenschaftsbezogen Aussagen dieser Wissenschaften vorausgehen.

Wenn empirische Erkenntnis der Entwicklung einer Sichtweise von Betrachtern in einem dadurch bestimmten Gegenstandsbereich entspringt, so sind die koevoluierenden Sichtweise und Gegenstandsbereich nur schwer voneinander zu trennen; denn man ist ja notwendig auf die Sichtweisen der gleichen erkennenden Wesen angewiesen. Sein Programm einer genetischen Betrachtung von Wissenschaften, wie es ähnlich später Foucault (1974) mit seiner Archäologie des Denkens unternahm, hat er allerdings nicht durchführen können.

Vielmehr hat er eine vergleichende Wissenschaftslehre vorgeschlagen und teilweise durchgeführt (1925 oder KLW I, 49-80; sowie KLW II, 319-471 aus dem Nachlass). Wissenschaftstheorie täte gut daran, nur unter wohlbedachten Umständen oder überhaupt nicht normativ zu argumentieren; auch darin stimmen Lewin und die modernen Wissenschaftstheoretiker überein. Um die notwendige Zusammenarbeit der verschiedenen "Wissenschaftsindividuen" auf eine realistische Basis zu stellen, sei das unvoreingenommene Vergleichen unabdingbar. "Denn es besteht keine Ableitbarkeit der Sätze einer Wissenschaft aus Sätzen anderer Wissenschaften" (KLW II, 404; VI, 465). Eine empirische Wissenschaftswissenschaft hat Lewin ein halbes Jahrhundert vor Kuhn und Feyerabend in Angriff genommen, praktisch ohne dafür Gehör zu finden (man vgl. etwa Passagen wie KLW II, 330ff. aus dem Nachlass, die ohne weiteres bei Kuhn stehen könnten).

Inhaltsübersicht

2. Soseinsaussagen setzen geklärte Daseinsannahmen voraus.

Dass Entitäten oder Gebilde ("an sich") existieren, wird man annehmen müssen, wenn man sich mit ihnen beschäftigen will oder kann. Aber niemand kann sagen, was sie sind und wie sie als solche sind - nicht einmal ob sie eines oder viele sind -, weil die Gliederung der Welt und damit ihre Gegenständlichkeit mit der Betrachtungsweise wechselt. Existenz- und Wesensaussagen sind also zweierlei, wie schon die Griechen gewusst haben.

So weit ich sehe hat Lewin als erster die Daseinsfrage empirisch-wissenschaftlich angegangen und anhand vergleichender Analysen zwischen Wissenschaften aufgezeigt, wie verschieden solche Gebildeauffassungen jenseits von aller Zuschreibung von Merkmalen des Soseins sein können. Insbesondere erwiesen sich die Daseinsauffassungen der klassischen Physik als ein durchaus spezieller Fall. Bereits in der Biologie finden sich andere und überdies mehrere verschiedene. Die Existenzweisen von Gebilden, wie sie zB die Begrifflichkeiten und Methoden der ökonomischen, juristischen, psychologischen, soziologischen oder kulturbezogenen Disziplinen konstituieren, hat noch niemand expliziert. In unserer Kultur sprechen wir jedoch praktisch nur den physikalisch konstituierten Existenzweisen eine "«gute» Realität" zu (KLW II, 49; vgl. unten Abs. 6).

Als Beispiel greife ich die von Lewin explizierten Daseinsannahmen einer organismischen Individual-Biologie im Vergleich zur klassischen Physik heraus. Physik und Chemie formulier(t)en alle ihre Gesetze unter Voraussetzung der Existenz von Gebilden, welche über die Zeit ihren materiell-energetischen Bestand in der Summe nicht ändern sondern nur verlagern oder umformen (Erhaltungssatz; vgl. das früheste Zeugnis von Lewins Ringen um den Wissenschaftsvergleich von 1911 (!) in KLW I, 81-85 und 87-107). Eine Biologie des lebendigen Organismus unter der gleichen Existenzannahme ist jedoch unmöglich, da ein Organismus ohne Stoff- und Energiewechsel nicht lebt. Die organismische Biologie beschäftigt sich offensichtlich mit Gebilden, deren Dasein als ein vom ständigem Wechsel ihres materiell-energetischen Bestandes unbeeinträchtigtes konzipiert ist, weil "die spezifisch biologischen Eigenschaften der biologischen Gebilde nur dann zu 'finden' sind, wenn unphysikalischen Fragen nachgegangen wird" (1922 oder KLW II, 302f.).

Im Beispiel: zwischen einem Ei und dem daraus schlüpfenden Huhn im späteren Lebensalter besteht zweifelllos eine existentielle Beziehung des Auseinanderhervorgehens, obwohl nach aller Wahrscheinlichkeit nur ein kleiner Teil der im Ei schon vorhandenen Moleküle im Huhn noch da sind und sehr viele neu dazu gekommen sind. Diese Daseinsbeschreibung ist völlig unabhängig von und vor irgendwelchen funktionellen oder Soseins-Aussagen, welche etwa erlauben, aus der Kenntnis des Eies gültige Vorhersagen über gewisse morphologische oder verhaltensmässige Merkmale des Huhns zu treffen. Diese setzen aber jene voraus. Im Kontrast dazu gilt die Gesetzlichkeit etwa einer chemischen Reaktion nur bei restloser Genidentität zwischen vorher und nachher, also dann, wenn die reagierenden Stoffe eingeschlossen sind; würde auch nur ein Teil der Stoffe mit anderen ersetzt oder kämen andere Stoffe hinzu, so könnte die Reaktion ganz anders verlaufen. Ei und daraus hervorgehendes Huhn existieren also organismisch-biologisch als eine (genidentische) Entität, physikalisch jedoch als zwei völlig separate Entitäten.

Lewin hat also gezeigt, dass die Existenzannahmen von Wissenschaften wie der Physik und verschiedener Zweige der Biologie durchaus unterschiedlich und nicht aufeinander zurückführbar sind. Wissenschaften formulieren Gesetze von der allgemeinen Form: wenn ein Gebilde vom Sosein x, dann ein Gebilde vom Sosein z. Sätze über Soseins-Bezüge sind aber nur sinnvoll, wenn die besagten Gebilde untereinander in einer Daseinsbeziehung stehen, wenn das zweite Gebilde in irgendeiner Weise an der Existenz des ersten teilhat, wenn es zum Beispiel aus ihm hervorgegangen ist. Das Auseinanderhervorgehen von physiko-chemischen Gebilden ist aber ein anderes als dasjenige von Organismen über die Generationen bzw. von Zuständen eines Organismus innerhalb seiner Lebensspanne. Noch einmal ein anderes ist vielleicht das Auseinanderhervorgehen von Zuständen der psychischen Organisation in der Ontogenese, das Hervorgehen von psychischer Organisation aus Erfahrungen mit der Welt oder das Hervorgehen von kulturellen Gebilden aus Handlungen von Personen u.a.m.

Leider hat Lewin seine Daseinsannahmen über "Psychologe s"2, also über eine oder mehrere Arten von Psychischem oder Psychologischem, nicht expliziert. Er ist zwar 1911 von dieser Frage, wodurch denn Psychisches im Unterschied und im Verhältnis zu Physischem in seiner Existenz konstituiert sei, ausgegangen (KLW I, 82ff., 88ff. und 105), hat sich jedoch später in auffallender Zurückhaltung dazu kaum mehr geäussert (vgl.1922 Anhang XII oder KLW II, 298-300 und einzelne Stellen im Nachlass). Vermutlich hat er sich, zumindest im öffentlichen Diskurs, der wahrnehmungsbedingten, das abendländische Denken dominierenden Einteilung der Daseinsweisen in Materielles und Seelisch-Geistig-Psychisches nicht ganz entziehen können. In seinen psychologischen Konstruktionsversuchen hat er sie, wie zu zeigen sein wird, immerhin zu vermeiden versucht. Ich halte seinen Gedanken, andere Daseinsannahmen als diese naive Dichotomie überhaupt zu explizieren, für einen Keim zu ihrer schliesslichen Überwindung.

Bis vor kurzem bin ich von der naheliegenden Vermutung ausgegangen, die Daseinsannahmen über Psychologes könnten identisch oder wenigstens analog zu denjenigen der organismischen Biologie verstanden werden. Heute glaube ich, dass dies ein ebenso irreführender Holzweg ist, wie die heute gängigen global physikalistischen und/oder mentalistischen Annahmen. Die Explikation von sinnvollen Daseinansannahmen für Psychologes ist für mich zu einem wichtigen Erfordernis der Wissenschaftlichkeit von Psychologie geworden. Lewin ermöglichte diese Frage, auf die ich unter Abs. 7 zurückkommen werde: Welches sind eigentlich die Existenzannahmen der psychologischen Wissenschaft(en)?

Inhaltsübersicht

3. Daseinsannahmen lassen sich als Genesereihen explizieren: die genetisch-ökologische Grundeinsicht.

An dem Beispiel der Vorgehensweisen von Physik und Biologie hat Lewin aufgezeigt, dass zur Explikation von Daseinsannahmen das Vergleichen von in ihrer Genese auseinander hervorgehenden oder zeitlich aufeinander beziehbaren Gebilden weiterhelfen kann.

Der von Lewin dazu vorgeschlagene Begriff der Genidentität ist der Inbegriff der Überschneidungs- bzw. Separatheitsrelation en3 , welche Gebilde eines Gegenstandsbereiches, wie sie von einer Wissenschaft betrachtet werden, zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Existenz untereinander aufweisen können. Zwei Gebilde sind dann miteinander genidentisch, wenn das eine in irgendeiner Weise aus dem andern hervorgeht. Lewin spricht von Existentialbeziehungen zwischen den (Quer-)Schnitten in Genesereihen. Ein Gebilde - das ist eine Kernthese Lewins bezüglich Organismen - wird gerade dann zum Beispiel für ein lebendes Gebilde gehalten, wenn es in seiner stofflich-energetischen Genesereihe mit sich selbst nicht restlos genidentisch bleibt und dennoch aus einem Gebilde derselben Reihe hervorgegangen ist und seine Eigenschaften und Funktionen weitgehend beibehält. Wie kann man eine solche Genesereihe spezifizieren im Hinblick darauf, dass alle funktionalen Aussagen nur auf Entitäten innerhalb der Reihe bezugnehmen?

Ein erstes Kriterium für eine solche Reihe ist, dass man Organismen als Teilgebilde zusammen mit ihrer Umwelt untersuchen muss, wenn man sie als lebende erklären will. Es ist wohl diese biologische Einsicht, welche Lewin in der Psychologie zum Lebensraumkonstrukt und später zum Postulat einer ökologisch angelegten Psychologie geführt hat. Natürlich schliesst das nicht aus, dass man für spezielle Zwecke (Teile von) Organismen herausgreift, ihren Stoffwechsel unterbindet (sie also zwecks Sicherstellung der Geltung des Erhaltungssatzes isoliert oder "einschliesst") und sie dann als physikalisch-chemische Gebilde untersucht; angezeigt wäre freilich, Vorgehensweise und Ergebnisse solcher Untersuchungen nicht "biologisch" zu nennen.

Ein zweites Erfordernis ist die Annahme der Nichtumkehrbarkeit biologischer Genesereihen und damit die grundsätzliche Geschichtlichkeit der biologischen und der auf ihnen aufruhenden psychologen Gebilde.

Lewin hat im Bereich der gesamten Biologie mehrere verschiedene Existentialbeziehungsformen gefunden: organismische Individualgenesereihen (zwischen Zeugung und Tod), individuumsbezogene Ahnengenesereihen (alle Vorfahren des Individuums X), entwicklungsgeschichtliche Stammesgenesereihen (alle Nachkommen eines Individuums oder Paares Y, einschliesslich ihres Wandels durch Speziation). Sind bezüglich psychologer Organisation vielleicht ähnliche oder noch ganz andere Genesereihentypen auszumachen oder lassen sich psychologische Aussagen an einer einzigen Existentialbeziehungsform festmachen? In welchem Verhältnis stehen die zu findenden psychologischen Genesereihen zu den biologischen?

Auch wenn man annimmt, dass für Lewin manche Aspekte der Existenzweise biologer Gebilde sich bei den durch psychologisches Denken konstituierten Gebilden wiederfinden (1922 Anh. XII oder KLW II, 300) und auch bei Sinngebilden wie Wissenschaften ähnlich vorkommen mögen, ist die Übertragbarkeit biologischer Genesereihen keineswegs gesichert. Denn es ist nicht auszuschliessen, dass gewisse Existentialbeziehungsformen wegfallen und andere dazukommen, ja dass vielleicht auch gänzlich andere Genesereihen in den Gegenstandsannahmen verschiedener Psychologien oder Sozial-, Geistes-, Kultur- oder Wissenschaftswissenschaften implizit sind (1922 oder KLW II, 262f.).

Ich frage mich sogar, ob nicht Daseinsannahmen, welche in Wissenschaften wie Psychologie oder Soziologie vielleicht entscheidend sind, möglicherweise die Idee der Existentialbeziehung im Nacheinander relativieren könnten. Lewin scheint der zeitgeistbestimmten Versuchung erlegen zu sein, die Daseinsannahmen der Biologie relativ zu denjenigen der Physiko-Chemie zu bestimmen und nicht etwa umgekehrt. Er hat darauf verzichtet, beispielsweise biologische Genesereihen zum Vergleichsmasstab für dritte Reihen zu benutzen. Psychologe Entitäten (teilweise bereits biologe) sind ja vielleicht auch gerade durch eine gewisse Zeitunabhängigkeit gekennzeichnet, insofern ein Gebilde eine akkumulierte Erfahrung repräsentieren oder eine mögliche künftige Entwicklung "vertreten" kann (vgl. Lang 1988, 1990 und die Andeutungen unter Abs. 6).

Die Konzeption des durch Existentialbeziehungen im Nacheinander konstituierten Gegenstandes, dh von psychologischen Genesereihen in Ausweitung seiner Einsichten über die organismischen Genesereihen, ist jedoch für die ganze Psychologie Lewins entscheidend. Dass sie in den meisten Sekundärdarstellungen fehlt, hat zu vielen Missverständnissen Anlass gegeben. Der "Lebensraum" ist nichts anderes als ein Querschnitt durch die Genesereihe eines (psychologisch verstandenen) Individuums zu einer bestimmten Zeit, zwar aus seiner realen Welt herausgelöst, jedoch mit der psychologischen Umwelt eine Repräsentation von ihr enthaltend. Aus der Tatsache, dass der Lebensraum ein Schnitt einer Reihe ist, ergibt sich übrigens, wie fundamental der Ansatz von Lewin entwicklungspsychologisch angelegt ist.

Inhaltsübersicht

4. Reduktionismus ist unmöglich, da Physik, Biologie und Psychologie unterschiedliche Genesereihen annehmen.

Kausalerklärung in der Physiko-Chemie setzt eine vollständige (restlose) Genidentitätsreihe voraus. Lewin äussert sich allerdings zurückhaltend (1922 oder KLW II, 71f.), da die Kausalitätskategorie ja in den Soseinsbereich gehört (KLW I, 88). Eine strenge (dh vom wahrnehmenden Subjekt losgelöste) Kausalerklärung fordert aber nichts anderes, als dass das Sosein eines Gebildes das Sosein eines anderen Gebildes notwendig und hinreichend determiniert. Das ist nur möglich, wenn die beiden Gebilde existentiell zur Gänze auseinander hervorgehen, also zwei Schnitte ein- und derselben vollständigen und restlosen Genesereihe darstellen, indem ein erstes oder Ursachengebilde das Sosein eines zweiten oder Wirkungsgebildes eindeutig bestimmt. Würde man nämlich den Erhaltungssatz (das ist das Äquivalent im Soseinsbereich von restloser Genidentität im Daseinsbereich) fallenlassen, so wäre Verursachung nie zwingend, wie das bekannte Verbot der Kausalauffassung korrelativer Zusammenhänge demonstriert. Es könnte ja dann irgendein unbekanntes drittes Gebilde die Ursache des Soseins des zweiten Gebildes sein (beispielsweise irgendein Agens, eine Gottheit oder der sog. Zufall).

Man kann in nicht restlos genidentischen Reihen zwar immer noch (Wahrscheinlichkeits-)Regeln formulieren; aber eine Ausnahme muss dann die Regel nicht widerlegen. Physiko-chemische Gesetze müssen sich demgemäss immer auf eingeschlossene Gebilde, dh letztlich auf exakt das ganze Universum beziehen, weil nur da der Erhaltungssatz (in moderner Form bezüglich Materie und Energie) unzweifelhaft ist. Beim Umgehen mit Ausschnitten aus dem Universum muss der Forscher eine vollständige Genesereihe voraussetzen oder sicherstellen können; ein approximatives Einschliessen soll kluge Experimentiertechnik leisten.

Nach dem Gesagten ist unverkennbar, dass physiko-chemische Gesetze allenfalls dem Geschehen in isolierten Ausschnitten aus Organismen gelten, jedoch einen lebenden Organismus in seiner zeitübergreifenden Existenz niemals treffen können. Mit andern Worten, Kausalerklärungen im physiko-chemischen Sinn sind in der organismischen Biologie und in der Folge wohl auch in der Psychologie ausgeschlossen. Wenn solche dennoch formuliert werden, so beschränkt sich ihre Geltung auf ausgeschnittene Trägerprozesse oder Nebeneffekte dessen, was Biologen oder Psychologen eigentlich interessiert. Sie sind durchaus nicht ohne Belang; aber sie betreffen günstigenfalls das Geschehen im Übermittlungskanal zwischen zwei Entitäten, nicht jedoch die übermittelte Botschaft. Beispielsweise erklären physiko-chemische Gesetze, wie ein auftreffendes Photon das Reaktionspotential einer Rezeptorzelle beeinflusst; wie ein Muster von auftreffenden Photonen aber Farb- und Formdiskrimination oder -wahrnehmung bedingt, erklären sie nicht.

Lewin ist wohl auf diesem Hintergrund dazu übergegangen, bei psychologen und soziologen Entitäten angemessenere Erklärungsformen, nämlich die sog. konditional-genetischen Geschehenstypen zu propagieren, welche Genesereihen überhaupt voraussetzen und die Bedingungen des Soseins eines bestimmten Schnittes in dem oder den vorausgehenden Schnitt(en), dh im "Geschehensdifferential" zu spezifizieren versuchen (1927 oder KLW I, 304). Der Begriff des Lebensraums meint ja nichts anderes als der zeitdifferentielle Schnitt durch die Genesereihe von allem, was für ein Individuum psychologisch wirksam wird; die ontogenetische Lebensraum-Reihe ist somit die psychologisch relevante Genesereihe.

Die Wissenschaftsindividuen Physiko-Chemie und Biologie oder Psychologie können jedoch miteinander kommunizieren, weil ihre unterschiedlichen Genesereihen sich in der jeweiligen Gegenwart schneiden können. Ihre Erkenntnisse sind jedoch nicht auseinander ableitbar oder aufeinander reduzierbar. Ebensowenig können psychische Bestände einer Person in Bestände einer anderen Person übergeführt werden, ohne dass sie in der jeweiligen Gegenwart der beiden Personen mittels Kommunikation dorthin gebracht und dort auf eigene Weise neu aufgebaut werden.

Inhaltsübersicht

5. Jedes Individuum mit seiner Umwelt ist als Genesereihe bio-psychologisch ein eigenes "Universum".

Die Genesereihe von biologen und psychologen Gebilden wie lebenden Organismen oder menschlichen Personen verläuft also nicht allein aus sich selbst heraus so wie sie verläuft, sondern hängt auch von den historischen Zufällen der Begegnungen des jeweiligen Gebildes X mit den in seiner Umgebung vorhandenen Gebilden ab. Insoweit ein Beobachter die vorausgehende Geschichte, also die Begegnungen von X mit umgebenden Gebilden zu früheren Zeitpunkten t0-j kennt, ist er in der Lage, das Gebilde X in seiner Konstituiertheit zum Beobachtungszeitpunkt t0 zu verstehen. Insofern der Beobachter von X zu einem Zeitpunkt t0 jedoch nicht wissen kann, was für Begegnungen X zu nachfolgenden Zeitpunkten t0+j mit umgebenden anderen Gebilden widerfahren wird, ist er grundsätzlich nicht in der Lage die künftige Entwicklung von X exakt vorherzusagen. Es wird erkennbar, dass biologische oder psychologische Genesereihen in ihrem Werden bis zum Beobachtungszeitpunkt abgeschlossene Systeme sein müssen, nachher jedoch offen sind. Beide Aussagen müssen bzw. können jedoch relativiert werden: insoweit ein Beobachter auch die rückwärtige Geschichte praktisch nie vollständig kennen kann, ist sein Verständnis von X auch schon bei t0 begrenzt; und insofern Wahrscheinlichkeitsaussagen über mögliche Begegungen nacht0 gemacht werden können, gibt es auch eine gewisse praktische Vorhersagbarkeit des künftigen Verlaufs einer Genesereihe.

Dass eine solche Beschreibung von menschlichen Individuen in ähnlicher Weise für Wissenschaftsindividuen gilt, dürfte nach dem Obengesagten einsichtig sein. Beide Typen von Individuen haben eine voll determinierte Geschichte bis zur Gegenwart, da prinzipiell eine vollständige Genesereihe rekonstruiert werden könnte; sie sind aber "nach vorne offen", zwar durchaus regelhaft, aber gesetzmässig nur bei umfassender Kennntnis ihrer selbst und bei vollständiger Kenntnis aller ihrer künftigen "Begegnungen" vorhersagbar. Darum sind ja auch Lebensläufe wie Wissenschaften ein Abenteuer.

Wenn der Ausdruck Universum in der Physik die Gesamtheit der materiell-energetischen Gegebenheiten bezeichnet, worin die physikalischen Gesetzmässigkeiten (allgemein etwa der Erhaltungssatz, spezifisch die physiko-chemischen Ursache-Wirkungs-Zusammenhangsgesetze) gelten, so muss man bei der Betrachtung des Lebendigen einen analogen Ausdruck auf jede einzelne biologe Genesereihe beziehen. Ortet man den Gegenstand von Psychologie prinzipiell im Bereich des Individuums und seiner Umwelt, so folgt daraus, dass die ontogenetische Existenzreihe jedes Individuums zusammen mit der dafür relevanten Umwelt (kurz Mensch-Umwelt-Einheit oder M-U-System) notwendig etwas Einmaliges ist. Denn es versammeln sich zu jedem Zeit-Schnitt in dieser Reihe Komponenten in einem existentiellen Zusammenhang, der mit keinem anderen Gebilde irgendwann in der Welt restlos physikalisch genidentisch ist, insbesondere nicht mit einem anderen M-U-System. Insofern ist jedes M-U-System sein eigenes "Universum" und bedarf streng genommen einer eigenen Psychologie, weil es eine eigene und einmalige Genesereihe darstellt. Möglich bleibt natürlich das Aufzeigen von Genesereihen, an denen mehrere Individuen und ihre gemeinsame Umwelt partizipieren und welche durch Wissenschaften wie die Soziologie konstituiert werden, also über den bio-psychologischen Individuen angelegt sind.

Man vergleiche damit die offenbar erfolgreiche Annahmen des Physiko-Chemikers über die prinzipiell aufzählbare Menge von chemischen Elementen oder von physikalischen Elementarteilchen, welche überall im physikalischen Universum exakt die gleichen Verhaltensweisen zeigen. Sie sind mithin im Rahmen ihrer Gesetzmässigkeiten auswechselbar, so dass physiko-chemische Gesetze unabhängig von der Geschichte bestimmter Entitäten wie diesem oder jenem Proton, Atom oder Molekül, dieser oder jener Masse oder Energieballung formuliert werden können. Was hingegen psychologisch bei einem Individuum oder M-U-System gefunden wird, kann nur per Analogieschluss auf ein anderes M-U-System übertragen werden. Lewin hat die daraus sich ergebende Forschungslogik unter verschiedenen Bezeichnungen wie "galileische Denkweise" (1931 oder KLW I, 233-278) oder "konditional-genetische Bestimmung eines Geschehenstypus" (1927 oder KLW I, 279-320) wiederholt skizziert. Es geht darum, unbedingt geltende Gesetze unter Abstraktion von den konkreten, historischen Gegebenheiten zu formulieren, nicht unter Generalisation von einigen oder vielen vorkommenden auf alle wirklichen Fälle.

In der Psychologie sind solche Gesetze offenbar nur bei sehr hohem Abstraktionsgrad denkbar. Das schliesst nicht aus, dass infolge hoher Ähnlichkeit von genetischen und kulturellen Werdensvoraussetzungen Regeln gefunden werden können, die unter Inkaufnahme der sprichwörtlichen und unvorhersehbaren Ausnahme auf viele oder sogar alle Menschen angewendet werden können (vgl. Lewins differenzierte Bewertung der Statistik: 1927 oder KLW I, 279-320 und 321-334). Die Psychologie ist also nicht ausschliesslich auf idiographisches Vorgehen beschränkt, obwohl dieses mit Vorteil eine grössere Rolle spielen dürfte.

Das Universum der klassischen Physik und die Universa von Biologien und biologen Psychologien, deren Existentialannahmen expliziert sind, haben also infolge ihrer unterschiedlichen Genesereihen eine andere Geschichtlichkeit. Die Zeit der Physik ist vorwärts und rückwärts symmetrisch oder umkehrbar, dh ein später Schnitt erklärt einen früheren genauso wie ein früher einen späteren. Biologische oder psychologische Zeit ist gerichtet und unumkehrbar, dh die Kenntnis eines Schnittes impliziert alle früheren der Reihe, bestimmt aber alle späteren nur partiell (1922 oder KLW II). Dennoch "berühren" sich die Genesereihen jedes M-U-Systems mit derjenigen des physikalischen Universums genau und ausschliesslich in der Gegenwart.

Inhaltsübersicht

6. Psychische und "soziale Phänomene besitzen den gleichen Realitätsgrad wie physische Gegenstände" -- gebraucht wird eine Wissenschaft, die beiden zugleich gerecht wird.

Psychische und "soziale Ereignisse können [demnach] sowohl das Ergebnis als auch die Entstehungsbedingungen physischer Ereignisse sein" (1949; KLW I, 355). Hingegen kann offenbar kein physischer Weltteil die Vergangenheit einer biologischen oder psychologischen Individualreihe beeinflussen, dh im Nachhinein wie auch immer ändern. Und natürlich auch nicht in direkter Weise seine Zukunft, sondern ausschliesslich dadurch, dass in der Umgebung des Individuums bestimmte physische Gegebenheiten oder Gelegenheiten vorhanden sein werden. Nur in der jeweiligen Gegenwart der beiden Reihen ist die Genesereihe eines Individuums Teil des Gegenwartsschnittes der physikalischen Reihe, und nur dann gibt es also Kausalwirkungen zwischen psychischen und der physikalischen Reihe.

In Lewins letztem Aufsatz, dem Gedenkartikel über seinen philosophischen Lehrer Ernst Cassirer, gibt es dafür einen trotz seines blossen Appellcharakters schlagenden Beleg: nach den ersten Atombombenabwürfen in Japan 1945 hätten sogar die meisten Naturwissenschaftler endlich sich dieser Einsicht von gleichem Realitätsgrad nicht mehr verschliessen können (1949; KLW I, 355). Ein solches Ereignis (ungezählt viele menschgemachte "Weltveränderungen" im kleineren Masstab geschehen stündlich) macht deutlich, dass umfassende Weltbeschreibung oder -vorhersage mit physikalischen Gesetzen allein unmöglich ist, ausser man wäre in der Lage, alle Individualreihen ebenfalls physikalisch zu kennen; und gerade das hat sich ja als unmöglich erwiesen, wenn man ihre Lebendigkeit voraussetzt.

Damit ist aber nun nicht nur die Möglichkeit einer Verbindung zwischen den physischen und den bio-psychologischen Genesereihen als begrenzt erwiesen, sondern zugleich auch ein Brückenschlag zwischen den entsprechenden Wissenschaften vorgezeichnet. Das Ziel müsste sein, eine Wissenschaft zu entwickeln, welche trotz der als unterschiedlich aufgewiesenen Existenzweisen von Physik und Biologie oder Psychologie/Soziologie und der Separatheit dieser Wissenschaften denjenigen Fakten gerecht wird, welche Menschen in ihrer Welt betreffen. Wenn aber die Einsicht akzeptiert wird, dass eine Wissenschaft durch die angenommene Existenzweise ihres Gegenstandes konstituiert wird und für die verschiedenen Grundwissenschaften je eigene Existentialbeziehungen gelten, so ist keine Wissenschaft möglich, welche Physisches einerseits und Biologisches oder Psychisches oder Soziales anderseits in den traditionellen Gegenstandsauffassungen insgesamt umfasst. Ich möchte das anhand dreier Weisen illustrieren, die Psychologie zu betreiben.

(A) Psychische Erscheinungen werden für die Zwecke einer Wissenschaft vom Menschen als eigentlich physische umgedeutet. Das entspricht einem materialistischen Weltbild und ist die dem naturwissenschafts-affinen Denken geläufige Auffassung. Sie hat im Behaviorismus ihre strengste Ausformulierung gefunden und dominiert auch heute weite Teile der wissenschaftlichen Psychologie. Der angestrebte Reduktionismus ist ein scheinbarer; denn im monistischen Materialismus oder Physikalismus ist alles sogenannt Psychische bloss eine vorläufige Redeweise als ob.

(B) Die zweite Möglichkeit ist dualistisch und geht davon aus, dass physisch Existierendes (zB ein "Reiz") auf dem Weg über die Wahrnehmung psychisch repräsentiert werden kann. Weiter wird angenommen, dass psychisch Existierendes in verbalen Äusserungen und andern Handlungen einen Niederschlag findet, also im Endeffekt wiederum physisch erfasst werden kann. Die so konstituierte kognitivistische Psychologie nimmt also, zwar indirekt, ebenfalls auf physiko-chemische Genesereihen bezug. Nach der Formel von Brunswik ist das so verstandene Psychische jedoch postperzeptuell und präbehavioral in das Individuum eingekapselt (vgl. 1943a oder KLW IV,146) und entbehrt daher der Möglichkeit, den Menschen als auf seine Umwelt bezogen zu verstehen (vgl. Lang 1981, 1990).

Dennoch nimmt ein Kognitivist, der sich nicht phänomenologisch einschränkt, an, das Psychische sei gewissermassen an beiden Enden an das Physische angebunden. Bleibt er Dualist, so muss er einen Sprung in den Genesereihen zwischen Physischem und Psychischem akzeptieren bzw. auf deren Explikation verzichten. Will er methodisch weiterkommen, so fährt er deshalb in einer quasi-physikalistischen Denkweise fort, indem er zB für Psychisches auf die Hirnprozesse rekurriert. Die Alternative ist, Kognitivist zu bleiben und die Psychologie auf ein Sprachspiel über Erlebnisse zu reduzieren. Beide Kognitivisten - ob sie mit sog. Reizen und Reaktionen oder mit in Sprache eincodiertem und elaboriertem Bewusstsein operieren - verzichten jedoch darauf, die dem dualistischen Credo implizite Wechselwirkungsthese wirklich auf die Probe zu stellen.

Inhaltsübersicht

7. Entwickle psychologische Daseinsannahmen derart, dass alles, was auf Individuen wirkt, und alles, was Individuen bewirken, untereinander in Existentialbeziehung steht.

Lewin sollte nach meinem Dafürhalten weder als Physikalist (A) noch als Kognitivist (B) missverstanden werden ist, obwohl er machmal den Anschein erweckt, der zweiten Lösung zuzuneigen. Ich vermute vielmehr, dass ihn seine vergleichend wissenschaftstheoretischen Einsichten dazu geführt haben, das Leib-Seele-Problem nicht so ernst zu nehmen, wie das die abendländische Geistesgeschichte tut. Wissenschaften konstruieren ihre eigenen "Wirklichkeiten". Will man die menschliche Kondition verstehen, muss man das sogenannte Psychische und das sogenannte Physische einschliessen und vor allem diese vorläufige Einteilung zu überwinden versuchen.

Im Sinne einer dritten Variante (C) möchte ich dementsprechend geltend machen, dass man Lewin viel besser versteht, wenn man klar zwischen dem Psychischen -- welches als eigenes partiell erlebt werden kann, aber privat ist und bei anderen per Analogie vermutet wird -- und dem Psychologischen unterscheidet -- welches die Konstruktion eines Wissenschaftlers darstellt und also nicht real existiert. Mit "psychisch" verweist Lewin auf etwas, was offenbar in seiner Daseinsweise ungeklärt ist, alltagssprachlich-naives Vorverständnis darstellt. Mit "psychologisch" verweist er auf eine vom Psychologen aufgebaute Konstruktion einer Genesereihe, welche alles in einer und um eine gegebene Person umfasst, was "wirklich ist, weil es wirkt". Leider erschwert die englische Sprache diese von Lewin in den deutschsprachigen Schriften konsequent eingesetzte Unterscheidung (vgl. 1922 Anh. XII oder KLW II, 298ff.).

Der "Lebensraum" (oder die psychologische Person zusammen mit der psychologischen Umwelt dieser Person, vgl. Lang 1980) repräsentiert den gegenwärtigen Schnitt der psychologischen (nicht der psychischen!) Genesereihe. In ihm sind alle aktuell für das Individuum relevanten Umweltgegebenheiten und die Handlungsmöglichkeiten des Individuums in Form von Regionen und ihren Valenzen enthalten und die aktuelle Befindlichkeit ist als Lage der psychologischen Person in einer bestimmten Region markiert. Der Lebensraum, auch das psychologische Feld genannt, ist also so wenig psychisch wie physikalisch, sondern etwas Drittes, nämlich die Konstruktion eines Psychologen.

In meinem Verständnis versuchte also Lewin, eine Psychologie über vom Forscher konstruierte Genesereihen eigener Art, nämlich über die "Lebensraum"-Reihen von Individuen, zu entwerfen. Es ist meines Erachtens nicht falsch, die Lewinsche Psychologie in einem idealistisch-nominalistischen Anstrich zu sehen. Die Anbindung der Lebensräume an relevant erscheinende Genesereihen wie die physikalischen, die psychischen, die sozialen, die kulturellen oder diejenigen weiterer einschlägigen Wissenschaften hat er nur sehr ansatzweise betrieben und genausowenig geleistet, wie alle Psychologen, welche untersuchen, was sie interessiert, und nicht was wirkt oder bewirkt wird. Einiges davon griff er immerhin in seinen letzten Lebensjahren unter dem Stichwort "psychologische Ökologie" auf.

Vermutlich ist das Konzept des Lebensraums und seiner Genesereihe als solches zu wenig empirietauglich, weil es gewissermassen deduktiv den Ausfluss eines Existenzpostulats darstellt und nicht, wie Lewin das für Physik und Biologie gemacht hat, vorgefundene Soseinsaussagen bezüglich ihrer impliziten Daseinsannahmen gruppiert. Will man hier weiterkommen, so muss man wohl die Begrifflichkeiten betreffend Physi(kali)schem und Psych(olog)ischem auf der Soseinsebene gründlich revidieren und das ehrwürdige Leib-Seele-Problem anders stellen. Daseinsannahmen über Entitäten, die im Vorverständnis mit "psychisch" in Verbindung gebracht werden, müssten endlich expliziert oder aufgegeben werden.

Die Beschäftigung mit der ökologischen Frage hat mich von der Untersuchung der Einflüsse der Welt auf den Menschen zur vernachlässigten Frage nach den Wirkungen des Menschen auf die Welt geführt. Denn Menschen im besonderen stellen ja einen schönen Teil ihrer Umwelt oder Kultur selber her. Wenn wir uns nicht mit beliebigen funktionalen Erklärungen, wir stellten diese oder jene Werkzeuge, Siedlungen, Kunstwerke, Symbolsysteme etc. zu diesem oder jenem Zweck her, begnügen wollen, so müssen wir sie wohl auch als Bestandteile psychologer Wirklichkeit, und nicht bloss als physische Objekte, begreifen.

Ökologische Psychologie, wie ich sie verstehe, ist daher eine Wissenschaft von Mensch-Umwelt-Systemen, die eine eigene Existenz aufweisen, weder eine physische noch eine psychische. Denn das Physische und das Psychische sind nicht Daseinsklassen, sondern Denkweisen von Betrachtern. Diese M-U-Systeme ruhen teils auf Neuronal-/Humoralstrukturen, teils auf kulturellen Strukturen auf und sind selten oder vielleicht nie auf das eine von beiden beschränkt und jedenfalls nicht möglich ohne beide (vgl. Lang 1990). Mein Ziel ist, M-U-Systeme und die Vorgänge in ihnen im Sinne Lewins als Genesereihen psychologer Art zu spezifizieren.

Nachdem Begriffe der "Information" einige Klärung und Anerkennung gefunden haben, ist die Durchführung einer solchen Psychologie vielleicht leichter als zu Lewins Lebzeiten. Seit kurzem hege ich die Hoffnung, Existentialbezüge zwischen den Entitäten einer ökologischen Psychologie mithilfe einer semiotischen Logik explizieren zu können. Der letzte meiner sieben ausgewählten Sätze, die ich von Kurt Lewin gelernt habe, ist aber noch ein Programm und eine Aufforderung.

Inhaltsübersicht

Schlussbemerkung

Das Schicksal des Lewinschen Denkens, seine starken Wirkungen, seine Fehlverständnisse und seine Vernachlässigungen, zu Lebzeiten und nachher, aber auch sein Potential, scheint mir ein Lehrstück für Lewins Auffassung der Wissenschaften als Gebilde in Entwicklung und für die enorme Rolle des Milieus, in das hinein ein (Wissenschafts-)Individuum kommt.

In Seminarien haben sich Mitarbeiter und Studierende immer wieder für Lewins Ideen begeistern lassen; angesichts der allgemeinen Entwicklungen in der psychologischen Forschung der siebziger und achtziger Jahre konnte man freilich ein Ernstnehmen von Lewins Denken mehr und mehr als einen Schritt ins Abseits empfinden. Der marktmässige "Misserfolg" der Werkausgabe bestätigt diese Einschätzung.

Dennoch bereue ich es keinen Augenblick, immer wieder versucht zu haben, ausgehend von Lewins Art und Weise Psychologie zu betreiben.

 

Fussnoten

1Auf Texte von Lewin verweise ich mit Jahrzahlen ohne Autor, welche der Bibliographie in Lewin 1963 entsprechen. Wenn dies möglich ist, führe ich Band- und Seitenzahl(en) der Kurt-Lewin-Werkausgabe (1981ff.) unter dem Sigel KLW bei.

2Einer Wortbildung von Lewin (KLW VI, 464) folgend verweise ich mit "psycholog" auf Entitäten, welche dem sog. Psychischen affin, aber nicht psychologisch konzeptualisiert sind. Die beiden geläufigeren Termini haben viele Bedeutungen: psychisch verweist idR eher auf Vorgefundenes, sei es direkt erlebt oder erlebbar, an solches anschliessend oder es voraussetzend, psychologisch verweist eher auf begrifflich-wissenschaftlich Elaboriertes. Mit psycholog versuche ich die Leser zu sensibilisieren, wenn von Entitäten die Rede ist, deren Daseinsweise ungeklärt und unpräjudiziert ist. Analoges gilt für "biolog" und "biologisch". Die Termini mit "-log" zeigen auf, dass ein Erkennender mitwirkt; die Termini mit "-logisch" verweisen auf systematisiertes Erkennen. Ausdrücke wie "psychisch" oder "sozial" tun so, als ob die damit bezeichneten Entitäten unabhängig von einem Erkennenden existierten.

3 Zu dieser Evokation einer mengentheoretischen Begrifflichkeit vergleiche man die Bedenken in 1922 Anh. IX oder KLW II, 293f.

Inhaltsübersicht

Literatur

Feyerabend, P. (1989) Irrwege der Vernunft (Farewell to reason, 1986). Frankfurt, Suhrkamp.

Foucault, M. (1974) Die Ordnung der Dinge (Les mots et les choses, 1966). Frankfurt, Suhrkamp.

Haller, R. & Stadler, F. (Eds. 1988) Ernst Mach - Werk und Wirkung. Wien, Hölder-Tempsky.

Lang, A. (1964) Über zwei Teilsysteme der Persönlichkeit: Beitrag zur psychologischen Theorie und Diagnostik. Bern, Huber, 1964.

Lang, A. (1979) Die Feldtheorie von Kurt Lewin. In: A. Heigl-Evers (Ed.): Lewin und die Folgen. Kindlers Enzyklopädie: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band 8, 51-57. Zürich, Kindler.

Lang, A. (1980) Lebensraum. In: Joachim Ritter & Karlfried Günder (Eds.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5, 143-145. Basel-Stuttgart, Schwabe.

Lang, A. (1981) Vom Nachteil und Nutzen der Gestaltpsychologie für eine Theorie der psychischen Entwicklung. In: Klaus Foppa und Rudolf Groner (Eds.): Kognitive Strukturen und ihre Entwicklung. Bern, Huber.

Lang, A. (1988) Die kopernikanische Wende steht in der Psychologie noch aus! - Hinweise auf eine ökologische Entwicklungspsychologie. Schweizerische Zeitschrift für Psychologie 47 (2/3) 93-108.

Lang, A. (1990) The "concrete mind" heuristic -- human identity and social compound from things and buildings. Chapter to be published in Steiner, D.; Jaeger, C. & Nauser, M. (Eds.) Person, society, environment -- fragments of anti-fragmentary views of the world. Zürich, ETH Geography Department.

Lewin, K. (1963) Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften, 1951 hrsg. von D. Cartwright, ins Deutsche übertragen von A. Lang und W. Lohr. Bern, Huber.

Lewin, K. (1981ff.) Kurt-Lewin-Werkausgabe. Hrsg. von C.-F. Graumann. 7 Bände. Bern und Stuttgart, Huber und Klett-Cotta. Bisher erschienen die Bände I und II (Wissenschaftstheorie); IV (Feldtheorie) und VI (Psychologie der Entwicklung und Erziehung).

Tolman, E.C. (1948) Kurt Lewin, 1890-1947. Psychological Review 55 1-4

Inhaltsübersicht | Top of Page