Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Magazine Article 1984

Hilflose Wesen? -

So entdeckt der Säugling seine Welt

1984.10

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9 / 21KB  Last revised 98.11.01

Unipress Nr. 42 vom Februar 1984, S. 14-15.

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Zum uralten «Bild vom Menschen» trägt in der Wanderschau auch eine moderne Wissenschaft, die Psychologie, ihre Erkenntnisse bei. In einem Videofilm «So entdeckt der Säugling seine Welt» vermittelt sie ein aktuelles Bild der psychischen Entwicklung in der frühen Kindheit. Prof. Alfred Lang, Autor des Films, beleuchtet hier nun auch im gedruckten Medium diese Thematik -- natürlich bloss eine von vielen weiteren, denen sich die Berner Psychologen widmen.

 

Die wichtigste Erkenntnis dieser Forschungen kann in die These zusammengefasst werden, dass das kleine Kind schon in den ersten Lebenswochen wesentlich differenzierter und eigenständiger lebt, als wir bisher geneigt waren zu glauben.

Empirische Psychologie erhebt nicht den Anspruch, ein abgerundetes Menschenbild zeichnen zu können. Nicht nur ist das «Bild vom Menschen» grundsätzlich stets unvollendet. Es ist auch immer durch die Zeit geprägt, in der es gemacht wird. Die Kenntnisse darüber, wie das kleine Kind in seiner Umgebung lebt, wie es wahrnimmt und handelt, sind aber doch wohl von grösster Bedeutung für unser Verständnis von uns selbst. Ein Menschenbild liegt solchen Untersuchungen freilich auch als Voraussetzung zugrunde.

Vor kurzem feierten wir ein Jahrhundert Entwicklungspsychologie und wissenschaftliche Untersuchung des kleinen Kindes: 1882 ist von Wilhelm Preyer das Buch «Die Seele des Kindes» erschienen, das als Auslöser der Psychologie der frühen Kindheit gilt. Aber erst vor kurzem haben wir das «kompetente Kleinkind» entdeckt

Fast ein Jahrhundert lang haben wir uns im psychologischen Denken über die Kindheit hauptsächlich vom Wunsch- und Befürchtungsdenken leiten lassen.

 

Veranlagung oder Prägung?

Man kann, etwas schematisch, vier verschiedene Auffassungen von Entwicklung oder «Menschenbilder» unterscheiden. Die traditionelle Auffassung, die bis zur Wende zum 20. Jahrhundert dominierte und auch heute noch von manchen Leuten geteilt wird, nahm an, dass der Mensch durch seine Anlage weitgehend vorbestimmt und auch in seiner Entwicklung festgelegt sei. In dieser Auffassung ist Entwicklung nichts als Entfaltung der Anlagen. Eine Konsequenz dieser Auffassung ist, dass man durch Unterricht und Erziehung nur geringen Einfluss ausüben kann.

Nach der Jahrhundertwende haben Freud und seine Nachfolger einerseits und die amerikanischen Behavioristen anderseits zwei Revolutionen ausgelöst. Sie behaupteten, dass die frühe Kindheit für die spätere Entwicklung der Persönlichkeit und für pathologische Fehlentwicklungen eine entscheidende Bedeutung habe. Diese Thesen sind heute weitgehend Allgemeingut geworden. Für den Umgang mit dem kleinen Kind würde dies bedeuten, dass man Kinder zu fast allen wünschenswerten Zielen erziehen und bilden könne. Zudem wäre die Konsequenz, dass Eltern oder Erzieher schwere Schuld auf sich laden würden, wenn sie dem kleinen Kind etwas anderes als ideale Aufwachsbedingungen bieten.

Solche Thesen stellen zweifellos einen Fortschritt gegenüber der traditionellen Auffassung der angelegten Vorbestimmtheit der Entwicklung dar. Dass diese Behauptungen, so wie sie heute vertreten werden, jedoch auch falsch sind, beginnt sich langsam durchzusetzen.

Denn es ist weder gelungen, aus dem Bébé ein Genie oder eine Persönlichkeit nach Wunsch zu konditionieren, noch haben sich frühkindliche Traumen oder Versagungen (Frustrationen) im postulierten Sinn mit Sicherheit als ausschlaggebend für die Charakter oder Neurosenbildung nachweisen lassen. So wie die traditionelle Entfaltungstheorie erweist sich auch die behavioristische Auffassung im wesentlichen als ein Mythos. Der Mensch ist weder in seiner Anlage festgelegt, noch ist er beliebig formbar; womit sowohl dem konservativ-klassenbewahrenden wie auch dem progressiv-gleichmacherischen und dem progressiv-machtsüchtigcn Menschenbild zugleich die Ecksteine entzogcn sind. Aber auch die psychoanalytische Auffassung vom chaotischen Triebwescn das zum Kulturwesen gebändigt werden muss und zeitlebens vomSchlachtfeld der internationalisierten Konflikte nicht loskommt, erweist sich als ein weltlicher Mythos oder zumindest als eine sehr partielle Sicht der Dinge. Sollte auch hier das Menschenbild oder die Ideologie der Vater der Wissenschaft gewesen sein? Wie kommt es, dass die Psychoanalytiker aus der Sicherheit ihrer Gedankengebäude heraus während Jahrzehnten vermieden haben, kleine Kinder genau anzuschauen, und auch dann noch, als sie es endlich taten, ihren Phantasien mehr trauten als ihren Augen und Ohren? Der Menseh als durch und durch ein Konfliktwesen - sicher passt das in unser Jahrhundert; aber es gab Zciten und es gab und gibt Kulturen, welche mit gleichviel Recht das Einssein des Menschen mit seiner Umwelt erkannten und betonten.

 

. . . sehen, was ist

Wilhelm Preyer hat in seinem Buch vor hundert Jahren zur Beobachtung der kindlichen Entwicklung aufgefordert. Und William Stern hat in seiner «Psychologie der frühen Kindheit» (1914) eine empirische Psychologie der Entwicklung unter Verwendung der systematischen Bcobachtung und des Experiments skizziert. Aber verhältnismässig wenig Psychologen sind ihm im Lauf der Jahrzehnte gefolgt und manche von ihnen waren von der Ungunst der Zeiten beeinträchtigt. Dem aufmerksamen Betrachter der Wanderschau wird nicht entgehen, dass die da vorgestellte Forschung im Rahmen dieser vierten Auffassung einer vorurteilsfreien, empirie-orientierten geduldigen Erforschung und Entwicklung des kleinen Kindes stehen. Aus der Fülle der heute verfügbaren Erkenntnisse versuche ich einige allgemeinere Sätze herauszuziehen, von denen ich glaube, dass sie für ein zeitgemässes Menschenbild von einiger Bedeutung sind:

Soweit einige ausgewählte Bemerkungen zur Bedeutung der Psychologie der frühen Kindheit für das Menschenbild. Folgerungen für die Praxis hängen unmittelhar damit zusammen.

Zunächst einmal denke ich, dass mit ein Grund für die so späte Wendung von den Mythen zur Beobachtung der übergrosse Praxisdruck gewesen ist. Wenn man in ein Geschehen eingreifen will, so muss man sich ein Bild von dem Geschehen machen, insbesondere von dem, was sein sollte. Man erliegt dann Ieicht der Gefahr zu übersehen, was ist. Die Medien und der Büchermarkt sind voll von guten Ratschlgen, was man in diesem oder jenem Problemfall im Umgang mit dem kleinen Kind tun soll. Es ist interessant festzustellen, dass nach den Ergebnissen einer Befragung die Leser solcher Ratschläge eher enttäuscht sind, nicht nur wegen der Menge der Widersprüche in diesem Material, sondern auch, weil sie nicht Iesen wollen, was man in diesem oder jenem Fall, der noch nicht der ihre ist, tun soll.

Ich denke also, dass ein etwas verminderter Druck, praktisches Handeln zu rechtfertigen, erleichtert hätte und erlechtern würde, den Blick vermehrt auf das kleine Kind selbst, seine Festgelegtheiten und seine Freiheiten, seine Kompetenzen und seine Möglichkeiten sowie auf das Zusammenspiel des kleinen Kindes mit seiner Umwelt zu richten, wie es heute die Forschung über die frühe Kindheit zu einem grossen Teil tut. Sie wäre so in der Lage, vermehrt auch den Eltern den Blick zu öffnen auf die Wunder der Entwicklung unserer Kleinen, statt sie in der Sorge zu halten darüber, ob sie alles richtig oder falsch machen. Denn das ist es, was sie vor allem suchen Die Sensibilisierung der Älteren für die Zusammcnhänge und die Spielräume des Entwicklungsgeschehens vom kleinen Kind in seiner Umwelt: das sollte unsere vornehmste praktische Zielsetzung für die nächsten hundert Jahre einer Psychologie der frühen Kindheit sein.

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