Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Book Review 1979

THOMAE, H. (1977): Psychologie in der modernen Gesellschaft. Hoffmann & Campe, Hamburg, 308 S.

1979.11

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Schweizerische Zeitschrift für Psychologie, 1979, 38 (1), 71-72

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Mit geteilten Gefühlen habe ich diesen persönlichen Rückblick und Umblick gelesen, den einer der angesehenen deutschen Ordinarien auf Herkunft, Stellung und Möglichkeiten seines Faches wirft. Er dürfte einer der letzten sein, der mit einem gewissen Recht den Anspruch erheben kann, sein Fach in seiner ganzen Breite einschließlich mancher Anwendungen vertreten zu haben. Thomae entwirft in einem ersten Teil eine Sozialgeschichte einer Reihe von Zweigen der Psychologie (Behaviorismus, marxistische Psychologie, Entwicklungs-, Sozialpsychologie, Verhaltensforschung usf.), um anschließend anhand einer Reibe von Beispielen den gegenwärtigen Stand dieser Disziplin zu umreißen. Der Sinn dieses Unternehmens liegt offensichtlich im dritten Teil: Thesen über bedeutsame Rollen und Aufgaben, die der Psychologie in unserer modernen Gesellschaft zukommen könn(t)en, verbunden mit teils trefflichen Korrekturen an herkömmlicher Praxis. Der mit Beispielen aus Erziehung, Gesundheitswesen, Strafrechtspflege, Wirtschaft und Politik illustrierte gemeinsame Nenner seiner Vorschläge gebt dahin, dass die Psychologen aufhören sollten, simplifizierende Scheinlösungen der Probleme, wie sie ähnlich von den jeweils Zuständigen ohnehin schon getroffen werden, aufgrund partieller und vorläufiger Erkenntnis vorzuschlagen und zu unterstützen. In der Regel habe die Psychologie beim heutigen Kenntnisstand nicht Lösungen anzubieten, wohl aber könne sie zeigen, daß die Problemlage komplexer sei, daß auch noch dieser und jener Umstand mit einzubeziehen sei, daß man an individuelle Unterschiede und Entwicklung denken müsse usf. Beispielsweise könne es nicht Aufgabe der Psychologie sein, ein Verfahren wie programmierten Unterricht vorzuschlagen und zu beweisen oder zu widerlegen, daß er bessere Lernerfolge zeitige als herkömmliche Unterrichtsformen; vielmehr sei auch das programmierte Lernen «ein Fall von personalintegriertem Lernen» (S. 212). Demnach sei «die Überführung globaler Aussagen über die Bedeutung bestimmter Einflüsse auf das Verhalten in konkrete, situations-, personspezifische Feststellungen und Vorhersagen als eines der wichtigsten Merkmale psychologischer Tätigkeit anzusehen» (S. 204).

Solchen Thesen stimme ich freudig zu, in der Überzeugung, daß man sie nicht oft genug wiederholen, illustrieren, belegen, diskutieren und vor allem auch in der Ausbildung der Psychologen zur Geltung bringen kann. Das ist leider immer noch nicht selbstverständlich und auch in seinen Konsequenzen noch lange nicht vollständig durchdacht. Thomae argumentiert so aus einer allgemeineren These heraus, zu deren Entwicklung die ersten beiden Teile des Buches dienen: Wissenschaft, wie man an ihrer historischen Erscheinung sehen könne, sei nicht ein rationales Unternehmen, bei dem aus neutralen Voraussetzungen eines aus dem andern fein säuberlich hervorgehe. Es ist das Verständnis der Psychologie als ein «pluralistisches System von wissenschaftlichen Versuchen, menschliches Verhalten und Erleben adäquat zu erfassen», wie es Thomae schon früher mit Recht und unter Zustimmung vieler Kollegen dargestellt hat.

So weit gut! Aber wie entscheidet Thomae, unter welchem der verschiedenen einschlägigen wissenschaftlichen Versuche ein konkretes Problem der modernen Gesellschaft nun wirklich gelöst werden kann oder soll? Ich greife ein Beispiel unter mehreren heraus: es ist eine Sache, aufzuweisen, daß die Thesen von Spitz oder des frühen Bowlby bezüglich der Rolle der Mutter in der Säuglingspflege und frühkindlichen Erziehung empirisch nicht belegt werden können und auf eine simple Mystifikation der Mutter hinauslaufen. Aber die verfügbaren Kenntnisse reichen eben nicht aus. wie Thomae anzunehmen scheint, um eine «differenzierende Betrachtungsweise» in Form einer konkreten und detaillierten Empfehlung zur Kleinkinderpflege positiv zu formulieren. Wenn er gewissen Gegnern jenes unseligen «Tagesmütter-Projektes» aus dem Jahre 1973 in recht gehässiger Weise unlautere Motive (z.B. berufsständische Interessen) zuschreibt, so muß man ihn daran erinnern, daß auch die Promotion jenes Projektes sehr wohl ideologischen Zielen entsprungen sein könnte. Nun lenkt jedoch eine solche Diskussion möglicher Motive von Interessengruppen vom eigentlichen Problem ab: und das ist der fundamentale Mangel des vorliegenden Buches: es klammert die Wertfrage, die jeder Anwendung einer Wissenschaft zugrunde liegt, aus der Betrachtung aus. Das ist doppelt schlimm, wenn es um eine pluralistische Wissenschaft geht.

Vereinfachend gesagt: Thomae weiß, welche Ziele er für sich und die Gesellschaft, wie er sie sieht, anstreben will. Diese Ziele sind ihm selbstverständlich; er expliziert sie nicht und stellt sie nicht zur Diskussion außer in Form der Kritik an alternativen Zielen (z. B. S. 213, 218, 221, 246) oder in der Form der doch wohl von niemandem in Frage gestellten Forderung nach dem Ausbau von psychologischen Beratungsdiensten (z.B. S. 208, 210, 231 usf.). Die Rahmenforderung ist allenfalls, daß «sich die Psychologie, die sich fast ein Jahrhundert lang bemühte, den Menschen an die Gesellschaft anzupassen, mehr und mehr auf die Aufgabe besinnen (sollte), die Gesellschaft den individuellen Welten anzupassen» (S. 277).

Das heißt halt eben: anything goes! Und warum Thomae das eine anstrebt und das andere verketzert, bleibt sein Geheimnis. So ist für mich dieses Buch eine verpaßte Gelegenheit, einer an Psychologie interessierten Öffentlichkeit zu zeigen, was sie mit Recht von dieser Wissenschaft erwarten kann und was eben nicht. Immer noch und immer wieder erwartet man Patentlösungen, ja Heil, auch Thomaes differenzierendes Aufweisen und Beraten ist letztlich eine Rahmen-Patentlösung. Aufzuweisen wäre ganz grundsätzlich der instrumentelle Charakter der modernen Psychologie. Nötigt man -- «man» sind allzu oft die Psychologen selber! -- sie nicht vorschnell zu gewagten Demonstrationen ihrer Nützlichkeit, so ist und wird sie zunehmend mehr sehr wohl in der Lage sein, wichtige Zusammenhänge in Sachverhalten, die Menschen betreffen, aufzuweisen. Das betont auch Thomae. Zu welchen Zielen aber diese Kenntnisse eingesetzt werden, ob zum Guten oder zum Bösen der Menschen, das ist Sache nicht der Wissenschaft selbst, sondern ihrer Benutzer. Das hätte Thomae deutlich machen müssen.

A. L.

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