Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Dictionary Entry 1972

Psychologie der Zeit

( With Summary in English )

1972.01

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Psychologie der Zeit (Rahmenartikel). Pp. 38-43 in: W. Arnold; H.J. Eysenck & R. Meili (Eds.) Lexikon der Psychologie. Bd.3. Freiburg i.B., Herder.

© 1998 by Alfred Lang

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Summary in English


Als Gegenstand der Psychologe ist Zeit stets an Ereignisse gebunden, welche einem handelnden Individuum erscheinen (Zeitwahrnehmung), welche es herstellt oder beeinflust (Zeitverhalten) oder in bezug auf welche es sich orientiert (Zeitperspektive, Zeitbegriff). Psychische Zeit bezeichnet das Insgesamt der Vorher-Nachher-Relationen zwischen dem Individuum und solchen Ereignissen. Die Ereignisse treten auf als vorausgesehen oder geplant (Zukunft), als wahrgenommen oder getan (Gegenwart) bzw. als behalten oder gespeichert (Vergangenheit); sie können ihren Ursprung sowohl im Organismus wie in seiner Umwelt haben und bewußt oder unbemerkt ablaufen. Unter ihrem zeitlichen Aspekt treten alle Ereignisse eines Individuums in einer Ordnungsreihe auf, deren wesentliche Kennzeichen die Gerichtetheit und Nichtumkehrbarkeil sind. Demnach kann ein gegebenes Ereignis nur einmal innerhalb dieser Ordnungsreihe vorkommen und sich darin mehr oder weniger weit erstrecken (Dauer) sowie zu anderen Ereignissen in einem bestimmten Ordnungsverhältnis (Gleichzeitigheit oder Sukzession) stehen. Die Ereignisreibe insgesamt - einschließlich ihrer sozio-kulturell bedingten Artikulation - erlaubt die zeitliche Orientierung des Individuums in Welt und Gesellschaft.

Die Psychol. erstrebt nicht eine Ergründung dessen, was Zeit ist, sondern sie versucht, die Mittel zu bestimmen, welche die Erfassung und den Umgang mit der Zeit ermöglichen, sowie die Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, welchen diese Mittel in mannigfaltigen Funktionszusammenhängen unterliegen. Traditionell gilt Zeit" als real gegeben, zwar geheimnisvoll (Augustinus), aber in Kalender und Uhrzeit sowie als Parameter t der Newtonischen Physik erfolgreich operationalisiert. I. Kant hat Zeit" als eine Form der Anschauung" aufgefasst und damit als ein zentrales Problem der Psychologie gestellt. Das allgemeine Verfahren der Psychologie der Zeit ist die vergleichende Gegenüberstellung der sog. "objektiven" Uhrzeit und der auf mannigfaltige Weise erfaßten sog. "subjektiven" Zeit.

DAUER. Die frühe Psychophysik der Dauer untersuchte die Fähigkeit der Zeitwahrnehmung als den "Zeitsinn" (E. H. Weber, J. N. Czermak), welcher analog den andern Sinnen Dauer als Reiz auffasse, freilich ohne bekanntes "Sinnesorgan". Schon die Befunde von K. Vierordt, E. Mach, G. T. Fechner, W.Wundt und ihren Schülern zeigten, daß die subjektive Zeit auf dem Hintergrund der homogenen Uhrzeit eigentümlich artikuliert ist. So nimmt die Unterschiedsschwelle mit zunehmender Dauer der dargebotenen Reize zunächst ab, erreicht bei 0,6 bis 1 sec. ein Minimum in der Größenordnung von je nach Methode und Bedingungen 1,5 bis 15% und steigt bei längeren Intervallen unregelmäßig an. Unter optimalen Bedingungen (Training, Reizrepetitionen) liegt allerdings das Minimum von ca. 1% bei rund 100 msec.

Auch die Beziehung zwischen subjektiver und objektiver Dauer ist nicht eindeutig, da die Methodeninvarianz der vorwiegend benutzten Vergleichs-, Reproduktions- und verbal vermittelten Herstellungs- und Schätzverfahren nicht gewährleistet ist, und starke Individualunterschiede die übliche Durchschnittsbildung als fragwürdig und die abgeleiteten subjektiven Skalen als artifiziell erscheinen lassen. In der Mehrzahl der Untersuchungen werden die kürzeren Intervalle verhältnismäßig zu lang, die längeren zu kurz wahrgenommen oder hergestellt. (Die Begriffe der Über- bzw. Unterschätzung sind mehrdeutig, da die Bezugsgröße bei den verschiedenen Verfahren nicht gleich ist.) Die Intervalldauer, bei der das Vorzeichen des konstanten Fehlers wechselt, also die subjektive Zeit mit der Uhrzeit übereinstimmt, wird Indifferenzpunkt genannt. Dieser wurde früher für eine Konstante in der Größenordnung von 0,6 bis 0,8, gelegentlich bis 1,5 sec. gehalten; nach neueren Befunden erweist er sich zur Hauptsache -- allerdings nicht ausschließlich -- in Funktion des dargebotenen Intervallbereichs als eine Bezugssystemwirkung. Demnach ist das Tempo der "inneren Uhr" abhängig von der Dauer der zu verarbeitenden Zeit. Auch durch mehrfache Wiederholung objektiv gleicher Intervalle werden kumulative Veränderungen der subjektiver Dauer bewirkt. Im Gegensatz zum unmittelbaren Erleben erscheint in der Retrospektive eine Zeit der Langeweile kurz, eine kurzweilig verbrachte Stunde lang. Zeitwahrnehmung und -verhalten sind in komplexer und ungewisser Weise beeinflusst durch situative Bedingungen, wie Instruktion, Versuchskontext, Reizart, Reizdichte (sog. leere bzw. gefüllte Zeit), Reizwechsel und -bedeutung, sowie durch organismische Bedingungen, wie Aufnahmemodalität, Hormonalzustand, Psychopharmaka, Tageszeit, Körpertemperatur, Aktivationsniveau, Motivation, Alter, Intelligenz, Persönlichkeitseigenschaften, psychopathologische Kategorien u. a. m. Die Hoffnung, Variablen der Zeitwahrnehmung in Persönlichkeitspsychologie und Psychopathologie als Diagnostikum anzuwenden, hat sich bisher trotz grossen Forschungseinsatzes nicht erfüllt.

Für die eigentümliche Artikuliertheit der subjektiven Dauer-Dimension spricht auch die phänomenologische Unterscheidung zwischen unmittelbar erlebter Dauer (psychische Präsenzzeit in der Größenordnung von 0,5 bis zu einigen Sekunden; W. Stern) und längeren, anscheinend kognitiv verarbeiteten, jedenfalls als abgeleitet erlebten Zeitstrecken (Fraisse, 1967), welche sich allerdings funktional nicht absichern läßt. Bezüglich der Rolle kognitiver Prozesse ist zu bedenken, daß gerade unter Bedingungen wie Schlaf und Hypnose und auch bei Tieren das Zeitverhalten genauer ist. Ebenfalls im Bereich des rhythmischen Verhaltens und Erlebens erscheint eine Frequenz von 1 bis 2 Hz (entsprechend Perioden von wiederum 0,5 bis 1 sec.) in mancherlei Hinsicht als bevorzugt, bequem, natürlich (Persönliches Tempo, Gehen, Spontanmotorik, optimaler Konditionierungsverzug, Assoziationslatenz usw.).

In den frühen theoretischen Vorstellungen dominierte einerseits die Idee des allmählichen Verblassens von Sinneseindrücken (Zeit-Ordnungs-Fehler); der Grad der Verblassung einer Erinnerungsspur werde als Temporalzeichen verwertet (T. Lipps). Anderseits lag es nahe, jenen ausgezeichneten Werten des scheinbaren Kontinuums (kleinste Unterschiedschwelle, Indifferenzpunkt, persönliches Tempo usw.) eine zeitkonstituierende Rolle beizumessen. Offenbar in Analogie zu den mechanischen Uhren wurde dementsprechend die "innere Uhr" als Zählwerk einer Einheitsdauer konzipiert (H. Münsterberg, W. James).

GLEICHZEITIGKEIT UND SUKZESSION. Einem geübten Beobachter genügt unter optimalen Bedingungen eine Unterbrechung von wenigstens 2 msec., um einen akustischen Reiz als zwei Töne wahrzunehmen; bei optischen Reizen an gleicher Netzhautstelle sind dazu ca. 50 msec. nötig. Um die Reihenfolge zweier nach Lokalisation, Reizart oder Sinnesmodalität unterschiedlicher Signale richtig zu erkennen, ist eine Pause von 100 bis 60 msec. erforderlich, die bei geübten Beobachtern bis gegen 20 msec. reduziert sein kann (S. Exner, I. J. Hirsh). Mit anderen Worten: Objektivzeitlich getrennte Ereignisse werden innerhalb eines beträchtlichen und nicht eindeutig definierbaren Zeitraums subjektiv als gleichzeitig erlebt (sog. psychischer Moment). Eine ganze Anzahl von zumeist auf zeitlicher Integration beruhenden seriellen Interaktionen in der Verarbeitung von zwei oder mehr in kurzen Abständen dargebotenen Signalen wird sowohl bezüglich des Inhaltes der Wahrnehmung wie auch der damit verbundenen Reaktionslatenz festgestellt (Bewegungswahrnehmung, serieller Auffassungsumfang, Rückwärtsmaskierung, Refraktärphänomene usw.).

Obschon sich also auch die Frage nach einer absoluten Schwelle zwischen Gleichzeitigkeit und Folge einer allg. und eindeutigen Beantwortung entzieht, wurde die funktionale Diskretheit der Zeitdimension ausschlaggebend für die Erneuerung der Einheiten-Zähl-Theorie der "inneren Uhr", welche heute die meisten Autoren explizit oder implizit vertreten. Die subjektive Zeit beruht demnach auf einer Reihung von Elementen, durch deren "Zählung" die Dauer von Ereignissen festgestellt und reproduziert werden kann. Als Einheiten werden wahrgenommene innere und äußere Geschehnisse schlechthin (Fraisse, 1967; M. Frankenhaeuser), mannigfaltige biologische Oszillatoren und Servoprozesse (quasi-)periodischer (z. B. Alpha-Rhythmus: N. Wiener) oder stochastischer (C. D. Creelman) Natur postuliert; am häufigsten wird eine additive Reihung der sog. psychischen Momente angenommen (K. E. v. Baer, H. Bergson, J. v. Uexküll, J. M. Stroud), wobei zur Erklärung der eigentümlichen Artikuliertheit der Dauer-Dimension und ihrer funktionalen Abhängigkeiten Zusatzmechanismen, wie veränderliche Momentlänge, Entstellung des Zählergebnisses bei der Speicherung usw., postuliert werden (Treisman, 1963; Michon, 1967; Cohen, 1967). Die Diskontinuität der Reizverarbeitung ist einwandfrei gesichert; doch fehlt jeder Nachweis der Relevanz der Momentreihung für den Umgang mit Zeit. [Nachtrag 2005: Lang (1971, 1973) hat durch Nachweis der Mitänderung von ineinander verschachtelten hergestellten subjektiven Intervallen unter experimentell induzierter Veränderung eines dieser Intervalle wahrscheinlich gemacht, dass ein Modell der "inneren Uhr " wohl eher auf der gleichzeitigen Verarbeitungen von mehreren inneren "Einheiten" beruht. Sein Modell der "multiplen inneren Uhr" könnte deutlich stabilere Zeitwahrnehmung und Zeitverhalten begründen als das Einheitenzählmodell und zugleich die oben beschriebenen Unregelmässigkeiten der Befunde begründen, wenn man annimmt, dass für die Schätzung oder die Herstellung unterschiedlich langer Intervalle nicht notwendig auf den gleichen Komplex von untereinander schwach koordinieten Komponenten dieser "inneren Uhr" abgestellt wird.]

ORIENTIERUNG IN DER ZEIT. Die sog. Zeitperspektive (K. Lewin, L. K. Frank), d. h. bes. die Erstreckung, aber auch die Artikuliertheit, Dichte, Konsistenz und Gliederung all jener Erfahrungen und Erwartungen (insbes. des Zukunfterlebens; R. Bergius), die für das gegenwärtige Erleben und Verhalten psychisch wirksam werden, wird mit Hilfe von Fragebogen und mancherlei projektiven Verfahren sowohl als Funktion wie als Determinante verschiedener sozialer, kultureller, konstitutioneller, persönlichkeitsdispositioneller und entwicklungsmäßiger Faktoren untersucht. Die bisherigen Forschungsergebnisse machen die Relevanz der zeitlichen Orientierung bes. im motivations- und sozialpsychologischen Bereich sichtbar; doch fehlen empirisch gesicherte Detailkenntnisse infolge mangelnder Methodeninvarianz.

Der subjektive Zeitbegriff stellt im Gegensatz zur funktionalen Diskretheit und Unregelmäßigkeit der subjektiven Zeit und bes. zu deren Verengung und Stillstand in der ferneren Vergangenheit und Zukunft ein idealisiertes, beidseits bis ins Unendliche homogenes Kontinuum vor. Dementsprechend setzt der isochrone Zeitbegriff der klassischen Physik Zeit und Raum als absolut Gegebenes der abgeleiteten Bewegungsgeschwindigkeit voraus. Untersuchungen zur Ontogenese des Zeitbegriffs (J. Piaget) und die als tau-Phänomen und kappa-Effekt bekannten komplexen Abhängigkeiten zwischen Zeit, Distanz und Geschwindigkeit (Cohen, 1967) zeigen jedoch einen dem Sachverhalt der relativistischen Physik verwandten Hintergrund auf. Demnach wäre psychische Zeit konstituiert durch das Tempo von endogenen Lebensprozessen und den zu ihrer Synchronisation ausgenützten Umweltsvorgängen.

Bindra, D. & H. Waksberg: Methods and terminology in studies of time estimation. Psychol. 8ull., 1956, 53, 155-159; Cohen,J.: Psychological time in health and disease. Springfield (Ill.), 1967; Fischer, R. (Ed.): Interdisciplinary perspectives of time. Ann. N. Y. Acad. Sci., 1967, 138 (2), 367-915; Fraisse, P.: Psychologie du temps. Paris, 2 ed. 1967; Fraser, J. T. (Ed.): The voices of time. New York, 1966; Lang, A.: Die innere Uhr als multiplex System. Bern, in Vorb.; Michon, J. A.: Timing in temporal tracking. Soesterberg (Holland), 1967; Mönks, P. J.: Zeitperspektive als psychologische Variable (Sammelreferat). Arch. ges. Psychol., 1967, 119, 131-161 ; Treisman, M.: Temporal discrimination and the indifference interval: implications for a model of the 'internal clock'. Psychol. Monogr., 1963, 77 (13), Nr. 576; Wallace, M. & A. I. Rabin: Temporal experience. Psychol. Bull., 1960, 57, 213-236; White, C. T.: Temporal numerosity and the psychological unit of duration. Psychol. Monogr., 1963, 77 (12). Nr. 575.

A. Lang

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English Summary:

As an object of psychology, time is always linked with events which are experienced (time perception) or produced or influenced (timing behavior) by an individual or in relation to which the individual orients him/herself (time perspective, time concept). Psychological time designates the sum total of precedence-succession-relations between the individual and such events. The events occur as foreseen or planned (future), as perceived or made (present), or as retained or stored (past); they can origin as well in the organism or in its environment und proceed with or without awareness. All events with an individuel can be arranged temporally in a serial order of a directed irreversible character. Thus any event can occur only once in this series within which it stretches for shorter or longer (duration) and stands in a specific ordinal relation with al other events (simultaneity or succession). The series of events as a whole, together with its socio-cultural articulation, allows for temporal orientation of the indiviual with its world and its group. Psychology does not aspire to determine what time is, but rather attempts specify the means which allow living beings to to deal with events temporally and to conceive of the ways in which these means function under various conditions.

Essentials of research on temporal discrimination and on the psychophysical relation between objective physical and subjective experienced or produced durations are described. Results are rather variable with experimental and organismic conditions; interpretation of average functions or subjectives scales are questionable. Immediately experienced or perceived shorter durations and cognitively enhanced or estimated longer durations are treated differently. Temporal behavior in animals and in humans during reduced awareness states is often much more reliable. Various models exist as to theoretical explanation of perceived time.

Similarly variable results and explanations exists as to the problem of simultaneity and succession of events. Whether two tones or flashes of light are perceived to occur at the same time or one after the other depends very much intensity, context, experience, state etc. Several researcher have built on the idea of a minimal moment of time which might amount to the threshold between simultaneity and succession or a similar elementary unit. This would allow to conceive of psychological time to be based like physical clocks on the seriation of units of time and a model of the "internal clock" could be built by the addition of a counting device to account for the amount of duration passed while perceiving or estimating some duration. That stimuli are processed discontinually in time is evident; yet no proof exists as to the pertinence of moment seriation for dealing with time.

Orientation in time or time perspective is researched by means of questionnaires and similar instruments. Results evidence the importance, in particular, of the expected future in the context of personal and social existence. Investigations into the development of time concepts demonstrate considerable differences at least in early phases of becoming between psychological time and the idealized isochronic and reversible continuum into infinite past and infinite future of the physical sciences. Psychological time appears to be constituted by the speed of internal life processes and their synchronization to environmental recurring events. 98.02.

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